Isolationen, Fixierungen, Medikamente gegen den eigenen Willen: Zwang sollte in psychiatrischen Kliniken stets das letzte Mittel sein. Und doch erleben jährlich immer mehr Menschen in der Schweiz genau das.
Jeder vierte Patient in der Psychiatrie ist mittlerweile zwangseingewiesen – also gegen seinen Willen dort. Das ist im europäischen Vergleich auffallend viel. Und jede zehnte psychiatrische Patientin ist in Schweizer Kliniken mit mindestens einer Zwangsmassnahme konfrontiert.
Insbesondere für junge Menschen können diese Erlebnisse traumatisch sein. SRF Investigativ hat die Fälle dreier Frauen und Männer zwischen 18 und 23 Jahren rekonstruiert. Sie alle haben im Rahmen ihres Aufenthaltes in einer psychiatrischen Klinik Zwang erfahren.
Es sind drei Einzelfälle, doch sie zeigen, wo es im System harzt.
Was zudem Gespräche mit gut einem Dutzend Pflegefachleuten und Ärztinnen zeigen: Auch für sie sind Zwangsmassnahmen eine grosse emotionale Belastung. Sie berichten von Ohnmacht, Wut, Verzweiflung.
Als Ladina in eine akute psychische Krise schlittert, ist sie 20 Jahre alt. Auf ihren Wunsch nennen wir sie nur beim Vornamen. Ihr Fall steht für die vielen Menschen, die gegen ihren Willen in die Psychiatrie eingewiesen werden. Deshalb nennen wir auch die beteiligte Klinik im Kanton Zürich nicht mit Namen.
Seit diesem Erlebnis sind bald drei Jahre vergangen. Noch immer denkt Ladina täglich daran.
Es ist nicht so, dass sie sich damals grundsätzlich gegen eine psychiatrische Behandlung gewehrt hätte. Die Studentin war zu dem Zeitpunkt bereits drei Mal stationär in einer Klinik gewesen – immer freiwillig. Sie zweifelt auch nicht den Sinn fürsorgerischer Unterbringungen generell an.
Doch die Art und Weise, wie sie in die Klinik eingewiesen wurde und was sie dort erlebt hat, hat Ladina nachhaltig erschüttert. Es geschah gegen ihren Willen. Ohne dass sie sich hätte wehren können. Kein Mitspracherecht – bei nichts.
Egal, ob ich in die Klinik will oder nicht. Ich muss.
«Am Tag meiner Zwangseinweisung ging es mir sehr schlecht», erinnert sie sich. «Meine Gedanken wurden wirklich gefährlich. Ich habe mich selbst verletzt.»
Trotzdem hätte sie sich gewünscht, dass der Arzt auf der Notfallstation nicht sofort eine fürsorgerische Unterbringung beschliesst, sondern sie mit ihrer Therapeutin Rücksprache nehmen lässt. Umso mehr, als sie sich gar nicht habe das Leben nehmen wollen. Gemeinsam hätten sie entscheiden können, was das Beste für sie sei, sagt Ladina.
«Stattdessen hiess es einfach, ich müsse jetzt mit der Ambulanz mitfahren – in eine Stadt, in eine Klinik, die der Arzt bestimmt hat», sagt Ladina. «Ich wusste: Dort muss ich bleiben, solange man es für nötig erachtet. Egal, ob ich will oder nicht. Ich muss.»
Ladina sagt, sie habe während der sechs Tage in der Zürcher Klinik vergeblich auf Hilfe gewartet. Sie wirft den Ärzten, Pflegfachleuten und Psychologinnen vor, sie «mehrheitlich ignoriert» zu haben. In der Woche ihres Aufenthalts habe sie «bis auf die Visiten keine Gespräche» gehabt.
Bis heute, fast drei Jahre später, hat Ladina Angst vor geschlossenen Räumen. «Ich muss immer wissen, dass ich wieder rauskomme. Dass ich nicht eingesperrt bin.»
Psychische Ausnahmesituationen
Zwangseinweisungen können Patientinnen und Patienten traumatisieren. Aber sie retten auch Leben – denn eigentlich sind sie für absolute Ausnahmesituationen gedacht: um psychisch erkrankte Menschen vor sich selbst oder andere vor ihnen zu schützen.
Im Zweifelsfall gewichten Ärztinnen und Kliniken die Sicherheit und die Gesundheit demnach höher als die persönliche Freiheit der Betroffenen. Sie weisen sie in eine Klinik ein – unter Zwang. Wie im Fall Ladina.
Isolationen und Fixierungen nehmen zu
Auch innerhalb der Kliniken nimmt der Zwang tendenziell zu. Mittlerweile erlebt jede zehnte Person, die in einer psychiatrischen Einrichtung in der Schweiz behandelt wird, mindestens eine Zwangsmassnahme. Das zeigen die Jahresberichte des Nationalen Vereins für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken (ANQ).
Es gibt in der Akutpsychiatrie vor allem drei Formen von Zwangsmassnahmen:
- Die Patientin bekommt gegen den eigenen Willen Medikamente – zum Beispiel per Spritze.
- Der Patient wird in ein Zimmer gesperrt. In der Fachsprache nennt man dies Isolation.
- Die Patientin wird mit Gurten an ein Bett gebunden. Man spricht auch von Fixierung.
Alle drei Zwangsmassnahmen hat Chrigu im August 2023 erlebt. Zu seinem eigenen Schutz haben wir ihm einen anderen Namen gegeben.
Chrigu weist sich im August 2023 wegen einer akuten Krise selbst in das Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) im Kanton Bern ein.
Der 18-Jährige ist kein unbeschriebenes Blatt: Er trinkt, nimmt Drogen, neigt zu Gewaltausbrüchen. Er hat einen Raubüberfall verübt. Das alles steht in seiner Klinikakte, die SRF Investigativ vorliegt.
In der Akte steht auch, er habe eine akute psychotische Störung mit Symptomen einer Schizophrenie. Er leide unter Verfolgungswahn und höre Stimmen.
Von der Fixierung – der heftigsten aller Zwangsmassnahmen – direkt in die Freiheit. Wie geht das?
In Chrigus Akte heisst es zur Begründung: «Da es keinen Therapieauftrag mehr gab und keine akute Selbst-/Fremdgefährdung mehr besteht.»
Jürg Gassmann, Rechtsanwalt mit 40-jähriger Erfahrung im Erwachsenenschutzrecht, sagt dazu:
Dass man einen Patienten, den man tagelang fixierte, weil man ihn für sehr gefährlich hielt, kurz nach Aufhebung der Fixation aus der Klinik entlässt, entbehrt aus meiner Sicht jeglicher Logik.
In Chrigus Akte steht auch, dass eine Ärztin am Tag der Eskalation einen sogenannten Rückbehalt für ihn ausstellte. Damit ist er – eigentlich freiwillig eingetreten – nun zwangseingewiesen. Dies ist die Voraussetzung für Zwangsmassnahmen.
Mit anderen Worten: Chrigu darf isoliert, fixiert und gegen seinen Willen mit Medikamenten behandelt werden.
«Das hat mich kaputt gemacht»
Für Chrigu war die Erfahrung im Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) traumatisch. «Ich ging freiwillig in die Klinik, damit es mir besser geht. Stattdessen wurde ich sechs Tage lang angebunden. Das hat mich kaputt gemacht. Man kann eigentlich sagen: Ich bin geschädigter rausgekommen, als ich in die Klinik rein bin.»
Chrigu sieht ein, dass er aggressiv und eine Fixierung für die Ärzte wohl unumgänglich war. Doch er wirft ihnen vor, ihn viel zu lange angebunden zu haben.
Wenn ein Patient fixiert ist, gibt man ihm üblicherweise Medikamente – damit er sich beruhigt. Damit das Erlebnis nicht traumatisch ist. Chrigu sagt dazu: «Ich konnte mich unter dem Medikament nicht mehr artikulieren. Das war sehr schlimm für mich.»
Bis heute verfolgen ihn die Tage – festgezurrt ans Bett. Er schläft schlecht. Wenn er überhaupt schläft. Und er liegt nicht mehr gerne im Bett, auch wenn es sein eigenes ist.
Das Psychiatriezentrum Münsingen nimmt allgemein Stellung. Und schreibt: «Mehrtägige Fixierungen sind im PZM selten.» Sie würden – wie alle Zwangsmassnahmen – «nur als Ultima Ratio» angewendet und «so kurz wie möglich und so lange wie zwingend nötig durchgeführt». Allgemein halte man fest, dass Patienten «erst nach sorgfältiger Abwägung und unter Einbezug der Betroffenen selbst» entlassen würden.
Der dritte Fall, den SRF Investigativ rekonstruierte, spielte sich in der Luzerner Psychiatrie (LUPS) ab. Er lief – so schätzt es Rechtsanwalt Jürg Gassmann ein – aus dem Ruder.
Für den Zwang, den die 23-jährige Nadia erfahren hat, gab es keine Rechtsgrundlage. Dies zeigen die Klinikakten, die SRF Investigativ vorliegen.
Auch Nadia heisst in Wirklichkeit anders. Auch sie trägt bis heute schwer am Erlebten.
Nadia will Aufmerksamkeit
So trug sich alles zu: Im Juli 2023 tritt Nadia freiwillig in die LUPS ein. Seit ihrer Kindheit hat sie psychische Probleme. Die Liste ihrer Diagnosen ist lang: mittelschwere bis schwere Depression, Borderlinestörung, instabile Persönlichkeitsstörung. Sie hat mehr als ein Dutzend stationäre Aufenthalte in Kliniken hinter sich.
Die Stimmung zwischen ihr und dem Personal in der LUPS ist von Anfang an angespannt. Nadia sagt heute, sie habe Aufmerksamkeit gesucht. Therapien. Mehr Möglichkeiten, nach draussen zu gehen. So steht es auch in ihrer Klinikakte.
Nadia sagt, man habe zu allem Nein gesagt. Sie erinnert sich, wie immer mehr Wut in ihr hochstieg. Verzweiflung. Nach einer Woche spitzt sich die Situation zu. Sie versucht, sich das Leben zu nehmen.
Eine 1:1-Betreuung ist im Normalfall das, was Pflegefachleute ganz am Anfang machen, machen müssten – damit eine Situation mit einer Patientin gar nicht erst eskaliert. Im Fall von Nadia steht sie am Ende.
Besonders pikant am Fall Nadia: Sie war freiwillig in der Klinik. Ohne fürsorgerische Unterbringung. Will heissen: Für die angewendeten Zwangsmassnahmen – Isolationszimmer und auf der Matratze festbinden – gab es keine Rechtsgrundlage. So schätzt Rechtsanwalt Jürg Gassmann den Fall für SRF Investigativ ein.
Um diese Rechtsgrundlage zu schaffen, hätte ein Arzt einen Rückbehalt - also eine Zwangseinweisung durch die Klinik selbst - ausstellen müssen.
Das Abschneiden der Haare sei besonders stossend, da dies selbst bei zwangseingewiesenen Patienten nicht erlaubt sei.
Die LUPS beantwortet gegenüber SRF Investigativ keine Fragen zum Fall Nadia, sondern antwortet allgemein: «Bei vitaler und akuter Gefährdung unserer Patientinnen und Patienten sind wir verpflichtet, die erforderlichen medizinischen Massnahmen umgehend vorzunehmen.» Dies könne «in seltenen Fällen ein Herauslösen aus Kleidungsstücken oder Haaren» sein. Dies gelte im Notfall auch, wenn eine Patientin freiwillig in die Klinik eingetreten sei. Die Frage, warum kein Rückbehalt ausgestellt wurde, beantwortet die LUPS nicht.
«Ich verspüre eine extreme Leere.»
Seit dem Vorfall in der Luzerner Psychiatrie (LUPS) sind rund neun Monate vergangen. Noch immer fühlt sich Nadia von ihren Gefühlen «regelrecht überwältigt», wie sie sagt. «Am schlimmsten ist die Angst. Ich habe Angst, dass ich wieder in die Klinik muss. In dieselbe Klinik. Gleichzeitig verspüre ich eine extreme Leere.»
Auch für das involvierte Personal sind Zwangsmassnahmen in den meisten Fällen traumatische Erfahrungen. «Auch wenn sie gerechtfertigt sind, hinterlassen sie ein schlechtes Gefühl», sagt ein Assistenzarzt einer grossen Deutschschweizer Klinik. «Weil es Zwang ist. Weil es Gewalt ist.» Noch schwieriger seien Fälle, die sich im Nachhinein als ungerechtfertigt herausstellten. Etwa, weil man merke, dass mit mehr Personal mildere Mittel ausreichend gewesen wären.
Pflegefachmann
Willy Honegger hat mehr als 30 Jahre als Pflegefachmann in der Psychiatrie gearbeitet, zuletzt als Nachtwache auf Akutstationen in der Luzerner Psychiatrie (LUPS). Die im Artikel erwähnte Nadia, die in der LUPS behandelt wurde, hat er nie getroffen, weder innerhalb noch ausserhalb der Klinik. Seit kurzem ist der 62-Jährige für einen neuen Arbeitgeber tätig.
«Ich habe es in der Klinik nicht mehr ausgehalten. Was ich dort erlebt habe, war schlimm. Es gab zu wenig Personal, teilweise waren die Pflegenden zu wenig gut ausgebildet oder zu unerfahren. Manche waren überfordert. Als Folge davon wurden mehr Zwangsmassnahmen als nötig angeordnet und durchgeführt. Diese Tendenz ist eindeutig spürbar: Isolationen zum Beispiel nehmen zu, und sie werden länger. Wenn ich ‹länger› sage, rede ich von Wochen. Wochen!
Wenn die Isolationszimmer bei uns auf der Station am LUPS besetzt waren, haben wir Patienten stattdessen teilweise in ihren eigenen Zimmern isoliert. Da sind Möbel drin, was für uns Pflegefachleute gefährlich ist: Wir wissen nicht, was uns erwartet, wenn wir ins Zimmer kommen. Vielleicht steht einer mit dem Stuhl hinter der Tür. Auch gibt es bei den normalen Zimmern im Gegensatz zu den Isolationszimmern keine Fenster in den Türen. Wir können also nicht ins Zimmer blicken, bevor wir zum Patienten hineingehen. Es ist aber nicht nur für uns gefährlich – sondern auch für die Patienten. Sie können sich in ihren Zimmern eher verletzen.
Am meisten Mühe machten mir die Fixierungen. Die Patientinnen und Patienten haben null Bewegungsfreiheit. Sie sind uns eigentlich ausgeliefert. Es gab zum Teil Frauen, die sexuelle Übergriffe erlebt hatten – und sie lagen auf ein Bett gebunden vor mir. Das war für mich als Mann eine unmögliche Situation.
Manchmal habe ich Sätze gehört wie: ‹Ihr habt kein Iso-Zimmer mehr, dann fixiert ihr halt.› Da lief es mir jedes Mal den Rücken hinunter. Solche Situationen haben zugenommen.
Ich kann und will das System Akutpsychiatrie nicht mehr mittragen. Deshalb habe ich gekündigt.»
Die LUPS sagt zu den Vorwürfen, dass sie die Grundversorgung sicherstelle und verpflichtet sei, alle Patienten aufzunehmen. Es könne daher «gelegentlich» zu einer Überbelegung kommen. Weiter sei der Stellenmarkt angespannt. Man schliesse die Lücken mit Aushilfen. Zur Anwendung von Zwangsmassnahmen schreibt die LUPS: «Wird eine bewegungseinschränkende Massnahme durchgeführt, haben vorher alle anderen, weniger einschneidenden Möglichkeiten (z. B. 1:1 Betreuung) nicht gewirkt.» Isolationen über Wochen gebe es «in der Regel» nicht. Und weiter: «Aggressive und/oder selbst- und fremdgefährdende Patientinnen und Patienten werden bei uns nicht in normalen Zimmern untergebracht.»
Anwalt
Jürg Gassmann ist Rechtsanwalt mit 40 Jahren Erfahrung im Erwachsenenschutzrecht. Er vertritt Menschen, die gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurden oder dort Zwangsmassnahmen erlebt haben. Er hat die Akten der Fälle Ladina, Chrigu und Nadia für SRF Investigativ geprüft und kommt zu den folgenden Ergebnissen:
- «Im Fall Ladina zeigt sich die grosse Macht, die Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz haben. In meinen Augen ist es ein Skandal, dass in bestimmten Kantonen jeder und jede von ihnen eine Zwangseinweisung ausstellen kann – auch ohne Fachausbildung in Psychiatrie. Eine fürsorgerische Unterbringung ist ein massiver Eingriff in die Grundrechte einer Person. Die Ärztinnen handeln als staatliche Organe, da ist höchste Zurückhaltung angebracht.»
- «Beim Fall Chrigu fällt mir auf, dass die Fixation aussergewöhnlich lange dauerte. Sechs Tage. Zudem wurde die Fixation scheinbar nicht – wie es eigentlich vorgeschrieben wäre – alle paar Stunden neu überprüft. Was aus meiner Sicht aber definitiv jeder Logik entbehrt: Dass man einen Patienten, den man tagelang fixierte, weil man ihn für sehr gefährlich hielt, kurz nach Aufhebung der Fixation aus der Klinik entlässt.»
- «Im Fall Nadia werden aus meiner Sicht Grundrechte krass verletzt – etwa das Verbot von Folter sowie unmenschlicher und erniedrigender Behandlung. Juristisch heikel ist insbesondere, dass sie sich freiwillig in der Klinik aufhielt. Es fehlte demnach ganz grundsätzlich die Voraussetzung für die Anordnung von Zwangsmassnahmen. Auch die Entlassung kurze Zeit später zeigt für mich, dass das Personal heillos überfordert war. Dessen Verhalten war jenseits von Gut und Böse.»
Pflegewissenschaftler
Der Pflegeexperte Christian Burr ist Dozent am Departement Gesundheit der Berner Fachhochschule (BFH). Ausserdem amtet er als Co-Präsident des Schweizerischen Vereins für Pflegewissenschaft.
Burr sagt, die Akutpsychiatrie befinde sich aktuell in einem «Teufelskreis»: «Zu wenig und zu unerfahrenes Personal führt zu mehr Druck, der zu mehr Zwangsmassnahmen führt. Diese wiederum führen dazu, dass Leute kündigen. Dazu gibt es empirische Hinweise.» Studien zeigten klar, dass viele Pflegende unter der angespannten Situation litten.
Um wirklich Veränderungen zu bewirken, brauche es einen Systemwandel. «Viele psychisch erkrankte Menschen wären lieber zuhause als in der Klinik, also müssten wir häufiger ambulante statt stationäre Behandlungen auch in der akuten Krise anbieten.» Das zeige auch der Blick ins Ausland, wo es in vielen Ländern eine viel bessere ambulante Versorgung als in der Schweiz gebe. «Besser bedeutet: früher und intensiver, aber auch besser entschädigt.» Konkret müssten ambulante Behandlungen in der akuten Krise zum gleichen Tarif wie eine stationäre Behandlung abgerechnet werden können, fordert Burr.
Doch auch auf Akutstationen müsse man ansetzen – etwa mit einem Intensivpflegezuschlag, wie es ihn in der Somatik auch gibt. Es sei entscheidend, dass die Pflegefachleute Zeit hätten, zu den Patientinnen und Patienten eine Beziehung aufzubauen und diese in akuten Phasen zu begleiten und zu pflegen. «Das braucht Zeit und ist entsprechend teuer», sagt Burr. «Doch es ist erwiesen, dass dadurch Zwangsmassnahmen verhindert werden können.»
Die psychiatrischen Kliniken in der Schweiz sind unter Druck. Immer mehr Menschen brauchen eine Behandlung, gleichzeitig fehlt es an Personal. SRF Investigativ hat bei den drei Kliniken, die in diesem Artikel erscheinen, nachgefragt, mit welchen Herausforderungen sie auf ihren Akutstationen kämpfen. So bereitet ihnen etwa die steigende Anzahl zwangseingewiesener Patienten Mühe. Teilweise machten diese einen Drittel aller Patienten aus.
Eine Zwangseinweisung löse bei vielen Betroffenen Widerstand aus. «Dieser kann eine allfällig bereits bestehende Aggressions- und Gewaltbereitschaft zusätzlich verstärken», schreibt das PZM dazu. Die Klinik aus dem Kanton Zürich, die im Fall Ladina involviert war, schreibt, das «Spannungsfeld zwischen Autonomiewahrung und Fürsorgepflicht» stelle eine «permanente Herausforderung» dar. Alle drei Kliniken erwähnen, dass mehr Menschen an mehreren psychischen Erkrankungen gleichzeitig litten, oft in Kombination mit Drogenkonsum. Oft spielten auch «gesellschaftliche und soziale Probleme» eine Rolle, schreibt die LUPS. Die Kliniken betonen, dass sie darum bemüht seien, Zwangsmassnahmen zu senken, etwa indem sie das Personal in Deeskalationstechniken schulten.