Die Vorwürfe sind happig: Jugendliche mit Autismus sollen am Boden entlang geschleift und im Zimmer eingesperrt worden sein. Damit sorgte ein Heim für Jugendliche mit Autismus im Kanton Genf für Schlagzeilen. Es ist aber nicht der erste Fall von Missständen in einem Heim für Jugendliche mit Autismus in der Westschweiz – auch in der Waadt waren 2018 Probleme in einem Heim bekannt geworden.
Es macht mich wütend und zugleich traurig, dass so etwas in der heutigen Zeit passieren kann.
Die Missstände im Genfer Heim für Jugendliche mit Autismus waren so schwerwiegend, dass es am Montag zu einer Hausdurchsuchung kam. Dabei wurden drei Angestellte vorübergehend festgenommen und befragt. Sie stehen im Verdacht, einem Kind ein Medikament verabreicht zu haben, ohne dass es ein Rezept dafür gab. Damit sollen sie sogar das Leben des Kindes in Gefahr gebracht haben.
Am Donnerstagnachmittag hielt das Genfer Bildungsdepartement fest, dass die drei befragten Mitarbeiter nicht mehr in das Heim zurückdürfen. Solche Missstände machen Isabelle Steffen, Co-Präsidentin des Verbands Autismus Westschweiz, fassungslos. «Es macht mich wütend und zugleich traurig, dass so etwas in der heutigen Zeit passieren kann.»
Erinnerungen an Fall in der Waadt
Das Heim Mancy in Genf ist nicht der erste Westschweizer Fall, der für Aufsehen sorgt: Die Cité du Genévrier oberhalb von Vevey in der Waadt geriet 2018 in die Schlagzeilen. Dort waren Mitglieder einer Autismus-Wohngruppe regelmässig medikamentös «ruhig gestellt» und nicht angemessen behandelt worden.
Zwischen der Affäre in Genf und jener in der Waadt gebe es Parallelen, sagt Steffen, die mit ihrem Verband Fachpersonen und Eltern vertritt: «Es gibt bei beiden Fällen einen Mangel an Ausbildung der Betreuerinnen und Betreuer. Diese haben auch keine Supervision, an die sie sich wenden können – und es gibt zu wenig Kontrollen.»
Gegenseitige Schuldzuweisungen in der Politik
In Genf haben die Missstände im Heim für Jugendlichen mit Autismus hohe Wellen geschlagen – auch in der Politik. Die FDP ist wegen der Affäre zum Angriff auf die zuständige Staatsrätin Anne Emery-Torracinta von der SP übergegangen. Die Freisinnigen verlangen, dass ihr das Dossier entzogen wird. Die Genfer Regierung hat dieser Forderung heute eine Absage erteilt und stellt sich ohne Vorbehalte hinter die Bildungsdirektorin.
Auch den Vorwurf, zu lange untätig geblieben zu sein, wies Anne Emery-Torracinta gegenüber dem Westschweizer Radio zurück: «Die unerlaubte Medikamenten-Abgabe war Ende März 2021 – wir haben im April sofort die Staatsanwaltschaft eingeschaltet.» Sie warf der FDP hingegen vor, die Tragödie für Parteipolitik zu nutzen. In der Genfer Politik sorgen die Missstände im Heim Mancy also für gegenseitige Schuldzuweisungen.
Schwieriger Gang an die Öffentlichkeit
Isabelle Steffen vom Verband Autismus Westschweiz stimmt es indessen traurig, dass der Fall in Genf erst dann bekannt wurde, als betroffene Eltern die Medien eingeschaltet haben. Das war im Waadtländer Fall genau gleich.
Für Familien von Kindern mit Autismus sei der Gang an die Öffentlichkeit nicht einfach, sagt Steffen. «Die Familien befürchten, dass sie bei Kritik das Kind wieder nach Hause nehmen müssen. Denn es gibt nicht viele Betreuungsplätze. Deshalb haben die Familien Angst.» So bleibt Steffen nur die Hoffnung, dass die Eltern künftig früher ernst genommen werden – und dass die Kantone in solchen Heimen genauer hinschauen.