Es ist still im Klassenzimmer in Binningen (BL). Die Schülerinnen und Schüler tragen Kopfhörer, halten konzentriert Tablets in den Händen. Auf den Bildschirmen ist das Gesicht einer alten Frau zu erkennen. Das Gesicht gehört Hannah. Sie ist die Protagonistin des Computerspiels «When we disappear». Eine Jüdin, die als junges Mädchen vor den Nationalsozialisten von Amsterdam in die Schweiz flüchtet – über Riehen bei Basel. Das Ziel des Spiels: Den Spielcharakter Hannah sicher in die Schweiz zu bringen.
Immer wieder wird die Spielerin in der Zeit zurückversetzt, begegnet in der Rolle der Hannah der Gestapo, trifft auf Grenzwachen und andere Geflüchtete. Die Geschichte von Hannah ist fiktiv, gründet aber auf über zwanzig wahren Fluchtgeschichten, die sich in der Region Basel zutrugen. Im Gebiet der «Eisernen Hand» bei Riehen, einem Stück Wald, wo es eine Lücke im Grenzzaun gab, versuchten Hunderte von jüdischen Geflüchteten während des Zweiten Weltkriegs ihr Glück.
Hans Utz arbeitete lange als Lehrer und entwickelt nun an der Pädagogischen Hochschule Luzern neue Bildungsmittel für den Unterricht. «Das Grenzgebiet bei Basel und die vielen Fluchtgeschichten sind sehr gut dokumentiert», das Spiel in Basel anzusiedeln, sei ein ganz bewusster Entscheid gewesen.
Es ist kein Videogame, wie Jugendliche es in der Freizeit spielen. Es ist ein Lehrmittel.
Mit einem herkömmlichen Game dürfe man das Spiel nicht vergleichen: «Es ist kein Videogame, wie Jugendliche es in der Freizeit spielen. Es ist ein Lehrmittel.» Angereichert ist das Spiel mit historischen Fakten, Texten, Berichten von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.
Schülerin Aileen führt die Spielfigur Hannah durch den Wald bei Riehen, versucht über die Grenze zu flüchten und scheitert. Sie startet einen neuen Versuch. Hannahs risikoreiches Unterfangen berührt sie.
Ihre Klassenkameradin schüttelt betrübt den Kopf: «Es ist unglaublich, dass die Flucht wirklich so schwierig war. Es tut mir leid für alle, die das erleben mussten.» Überwältigt sei sie. Dieses Gefühl will Utz mit dem Computerspiel auslösen: «Im Gegensatz zu einem Lesetext ist das Spiel interaktiv. So lernen die Jugendlichen am eigenen Leib, was eine Flucht in dieser Zeit bedeutet hat.» Das mache Geschichte fassbarer.
Es ist unglaublich, dass die Flucht wirklich so schwierig war. Es tut mir leid für alle, die das erleben mussten.
Das Thema Flucht sei eines, das die Binninger Klasse ohnehin beschäftige, sagt Klassenlehrerin Stefanie Lønskov: «Viele der Jugendlichen haben Migrationshintergrund und Eltern, die aus anderen Ländern geflüchtet sind.» Immer wieder werden im Spiel Texte eingeblendet, Fakten zum Zweiten Weltkrieg, Erklärungen und Analysen. Das Spiel solle den Unterricht auf keinen Fall ersetzen, sondern ergänzen, sagt Hans Utz: «Neue Medien wie zum Beispiel Games können einen enormen Beitrag zur Vermittlung von Geschichte leisten.»
Hinter dem Projekt steht neben der Pädagogischen Hochschule Luzern das Zürcher Produktionsstudio «Inlusio Interactive». Die Idee des Spiels entstand 2016, als viele Geflüchtete Schutz in der Schweiz suchten. Rund 300'000 Franken habe die Entwicklung des Spiels bis jetzt gekostet, so Hans Utz. Das Bundesamt für Kultur sowie diverse Stiftungen beteiligen sich an den Kosten.
Nach dem Testlauf an den Baselbieter Schulen soll das Game für Lehrpersonen in der ganzen Deutschschweiz verfügbar sein. Am 8. Mai 2025, also exakt 80 Jahre nach Kriegsende, soll das Game veröffentlicht werden.