Als der Bundesrat vor einigen Wochen das Rahmenabkommen mit der EU beerdigte, war das ein mittleres politisches Erdbeben. Im Hintergrund blieb die Schweizer Chef-Unterhändlerin, die in den Monaten davor versucht hatte, die Kohlen aus dem Feuer zu holen und die EU zu Konzessionen zu bewegen. Livia Leu, Staatssekretärin und früher Schweizer Botschafterin im Iran, blickt auf die vergangenen Wochen zurück.
SRF News: Was ist schwieriger: mit den Mullahs im Iran zu verhandeln oder mit der EU?
Livia Leu: Verhandeln ist immer eine Kunst und eine Herausforderung, egal mit wem.
Was haben Sie von Ihren Erfahrungen im Iran in dieses Verhandlungsmandat mit der EU mitnehmen können?
Dass man am Ball bleiben muss, dass man Durchhaltevermögen zeigen muss, dass man seine Positionen klar formulieren muss. Und auch manchmal sehr klar daran festhalten muss.
Jetzt, wo der Vertrag vom Tisch ist, muss sich auch die EU nochmals überlegen: Was wollen wir mit der Schweiz?
Viele sagten, ihr Korsett bei den Verhandlungen sei sehr eng gewesen. Andere meinten, es sei eine Mission Impossible. Hatten Sie überhaupt eine Chance, etwas zu erreichen?
Ja, denn der Bundesrat hatte seine Position im November 2020 angepasst. Aber man muss sehen: Die Schweiz hatte zu Beginn der Verhandlungen grosse Konzessionen gemacht, indem sie die institutionellen Mechanismen im Grundsatz akzeptierte; also die dynamische Rechtsübernahme, die Rolle des Europäischen Gerichtshofs in der Streitbeilegung und auch die Kündigungsklausel. Deshalb gab es nicht mehr viel Bewegungsspielraum.
Die EU hat mehrmals betont, dass die bestehenden Abkommen nicht einfach weiterlaufen können, dass sie veralten. Was hat die Schweiz überhaupt für eine Chance?
Die bestehenden etwa 120 Abkommen sind nach wie gültig. Das ist nicht wie beim Brexit, wo zu einem bestimmten Zeitpunkt alle Abkommen ausser Kraft treten.
Bei der Medtech-Branche hat man nun aber bereits gesehen, was geschehen kann: Ein Abkommen ist abgelaufen, wird nicht mehr erneuert, und die Branche hat ein Problem. Das dürfte in den nächsten Monaten und Jahren in verschiedenen Branchen ähnlich laufen.
Die EU hat eine Reflexionspause angesagt. Jetzt, wo der Vertrag vom Tisch ist, muss sich auch die EU nochmals überlegen: Was wollen wir mit der Schweiz? Ich bin optimistisch, weil ich sehe, dass es nicht eine einseitige Beziehung ist, von der nur die Schweiz profitiert. Gerade, wenn sie die Personenfreizügigkeit anschauen: 1.5 Millionen EU-Bürger leben in der Schweiz, nur ein Drittel so viele Schweizer Bürger leben in der EU. Dazu kommen die knapp 350'000 Pendler, die Dienstleistungserbringer, 200'000 pro Jahr. Das sind klare Interessen, die hier im Spiel sind, und diese wird die EU nicht einfach ignorieren.
Die Schweiz mit ihrem Profil als Brückenbauerin kann im UNO-Sicherheitsrat das ihre beitragen, um Konsens zu finden in schwierigen Fragen.
Als Staatssekretärin sind Sie nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt zuständig. Was sind Ihre Schwerpunkte für die nächsten Jahre?
Die erste Dienstreise ausserhalb Europas hat mich in die USA geführt. Einerseits natürlich nach Washington, zur neuen Administration Biden, aber auch nach New York. Wir streben das erste Mal seit dem UNO-Beitritt einen Sitz im UNO-Sicherheitsrat für die Jahre 2023 und 2024 an. Das ist eine wichtige Priorität im Bereich Frieden und Menschenrechte.
Was hat die Schweiz dort zu sagen? Da gibt es ein paar Veto-Mächte, die sagen, wo es langgeht.
Die Schweiz mit ihrem Profil als Brückenbauerin kann in einem solchen Gremium sicher das ihre beitragen, um Konsens zu finden in schwierigen Fragen. Die Veto-Mächte können ja auch nicht bei jeder Resolution ein Veto einlegen.
Das Gespräch führte Urs Leuthard.