Frühmorgens, lange bevor die Session startet, ist Andrea Gmür auf den Beinen. Sie ist frühes aufstehen gewohnt, schon als Schülerin verdiente sie so bei der Migros ihr Reisegeld: «Um 5 Uhr habe ich mit Haube und Plastikhandschuhen angefangen, Speck und Schinken am Fliessband zu verpacken.»
Und deshalb ist ihr der Appetit auf Fleisch etwas vergangen. Gmür studierte Sprachen, arbeitete auch als vierfache Mutter als Gymnasiallehrerin. Die Bücherfreundin kann dichten, dieser Reim zur Frauenquote in der Wirtschaft machte sie 2018 schweizweit bekannt:
Viel Applaus gab es für Gmürs Poesie am Rednerpult, auch sportlich ist sie ambitioniert, dreimal schon hat sie das Parlamentarier-Skirennen gewonnen. Politisch steht sie in der Mitte, ist wirtschaftskonservativ, aber gesellschaftsliberal. Damit ist sie für breite Kreise wählbar.
In ihrem Kanton, Luzern, startete sie durch: Nach gerade mal einer Legislatur im Nationalrat wurde die gebürtige Toggenburgerin im letzten Oktober in den Ständerat gewählt, im Januar wurde sie Fraktionschefin, gehört nun zu den mächtigsten Frauen der Schweiz.
Letzte Woche wurde ich im Zug gefragt, ob mich meine Kinder überhaupt noch sehe. Sie sind zwischen 19 und 26. Ich habe geantwortet: Diese Frage ist meinem Mann noch nie gestellt worden.
Und immer noch fragt man sie gerne als Erstes nach den Kindern: «Letzte Woche wurde ich im Zug gefragt, ob mich meine Kinder überhaupt noch sehen. Sie sind zwischen 19 und 26. Ich habe geantwortet: Diese Frage ist meinem Mann noch nie gestellt worden.»
Bei so viel Erfolg innerhalb kurzer Zeit sind Kritiker nicht weit. Ihre steile politische Karriere sei mehr Glück als Können, provozierte kürzlich der «Tagesanzeiger». Gmür nimmts gelassen: «Ich glaube nicht, dass ich nur gewählt wurde, weil ich eine Frau bin.»
Ständerätin Gmür ist jedoch eines mit Sicherheit: Bestens vernetzt. In der Politik etwa dank ihres Vaters, dem früheren St. Galler CVP-Ständerat Jakob Schönenberger, der vor zwei Jahren starb. Durch ihren Mann Philipp Gmür, Chef der Helvetia Versicherungen, hat sie Kontakte in die Wirtschaft.
Diese Einflussquellen versucht Gmür aber zu relativieren: «Ich weiss nicht, ob mein Mann oder ich wirklich aus derart einflussreichen Familien kommen. Wir versuchen, unsere Arbeit zu machen, haben gewisse Kontakte und setzen uns ein.» Und manchmal mache man einen gewissen Einfluss geltend, um einem Anliegen zum Durchbruch zu verhelfen.
Auch in die Kirche hat Gmür einen direkten Draht; der Bischof von Basel, Felix Gmür, ist ihr Schwager. Als politische Prioritäten nennt Gmür alte Bekannte: Umwelt, Gesundheitskosten, Rahmenabkommen und Sicherung der Sozialwerke.
Die neue Fraktionschefin sei gut gestartet, die Partner EVP und BDP loben sie als sehr offen, motiviert und angenehm. Die anderen Fraktionen bewerten Gmür unterschiedlich: Von schnell beeinflussbar oder unsicher geht das Spektrum bis zu kompetent und konstruktiv.
Ein Leben ohne Politik
Alle schätzen sie als feine Person. Doch Gmür kann nicht nur nett sein, man spürt, dass diese zierliche Frau auch anders kann: «Ich habe sehr wohl Ziele, die ich verfolge.» Sie müsse deswegen aber nicht laut werden oder so richtig «drifahre», um etwas zu erreichen.
Sie sei oft auch sehr spontan und direkt. Das komme nicht immer gleich gut an. Und was ist Gmürs nächstes Ziel? Der Bundesrat? Die 55-Jährige denkt schon viel weiter: «Wir haben mit Viola Amherd eine sehr gute Bundesrätin und ich hoffe, dass sie noch lange im Amt bleibt.» Sie selber erreiche dann auch einmal das Pensionsalter: «Und ich möchte auch noch ein Leben nach der Politik haben.»