Die Fallzahlen in der Schweiz scheinen die Talsohle erreicht zu haben, nachdem sie mehr als zwei Monate laufend gesunken sind. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) reagiert darauf nicht beunruhigt – obwohl die ansteckendere Delta-Variante bald auch in der Schweiz dominieren dürfte. SRF-Wissenschaftsredaktor Daniel Theis erklärt, warum die Pandemie nun in eine neue Phase tritt – und die Zahl der Neuansteckungen nur noch bedingt aussagekräftig ist.
SRF News: Ist die Haltung des BAG nicht fast etwas fahrlässig, wenn man die stark steigenden Zahlen in anderen europäischen Ländern anschaut?
Daniel Theis: Schon länger hat man davon geredet und jetzt scheint sie da zu sein: Die neue Phase, wo die Fallzahlen nicht mehr wie bisher abbilden, wie viele Menschen schwer an Covid-19 erkranken. Bis jetzt war klar: Steigen die Fallzahlen stark an, ziehen mit etwas Verzögerung auch die Spitaleinweisungen an. Doch dieses Verhältnis ändert sich jetzt langsam und wird sich weiter ändern.
Studien zeigen, dass dies direkt mit dem Immunschutz zusammenhängt, den die eher gefährdete Bevölkerung immer mehr hat. Sei es durch Genesung oder – zum grösseren Teil – durch Impfung. Es kann also sein, dass die Fallzahlen jetzt deutlich steigen, ohne dass die Spitäler in Schwierigkeiten geraten.
Womit ist in den nächsten Monaten zu rechnen?
In Grossbritannien steigen die Zahlen seit etwa zwei Monaten an, und zwar mit dieser typisch exponentiellen Kurve, die jetzt steil nach oben zeigt. Grossbritannien hat im Moment etwa 20 Mal so viele Fälle wie die Schweiz, proportional auf die Bevölkerung gerechnet. Die Spitäler haben das aber nicht drastisch zu spüren bekommen.
Das liegt daran, dass aktuell 86 Prozent der Erwachsenen mindestens eine erste Impfdosis erhalten haben. Und vor allem, dass die über 70-Jährigen schon weitgehend geimpft sind, in England etwa rund 95 Prozent. England will darum auch in Kürze alle Massnahmen aufheben. Das bleibt natürlich nicht ohne Kritik, es gibt Stimmen, die vor neuen Virusvarianten und unnötigen Erkrankungen warnen.
In der Schweiz sieht es aber etwas anders aus: Bei uns sind viele Menschen noch ohne Immunschutz, auch bei den über 70-Jährigen sind es laut Schätzungen des BAG noch etwa 200'000 Menschen. Das könnte hierzulande im Herbst bedeuten, dass die Spitäler wieder deutlich mehr Corona-Patientinnen und -Patienten aufnehmen müssen.
Also impfen, impfen, impfen, wie dies der Bund gerade propagiert?
Das ist neben dem gesellschaftlichen Aspekt letztlich eine persönliche Risikoabwägung. Wie krank könnte ich werden? Wie stark werden mich Impfnebenwirkungen betreffen? Beides weiss man nicht im Voraus. Was man aber weiss, ist, dass dieses Risikoprofil für ältere Menschen einen sehr klaren Vorteil für die Impfung zeigt. Bei jüngeren Personen und besonders Jugendlichen oder Kindern ist es nicht mehr so eindeutig. Das Risiko, schwer zu erkranken, ist für sie relativ klein – und die Impfnebenwirkungen können mehrere Tage im Bett bedeuten.
Dennoch gibt es hier auch die Möglichkeit zu bedenken, dass man auch als junger Mensch an Covid-19 leiden kann – auch länger, etwa mit Konzentrations- und Gedächtnisstörungen oder Müdigkeit. Immer mehr Studien zeigen, dass auch viele junge Menschen solche neurologischen Störungen über Monate mittragen, Stichwort Long Covid.
Das Gespräch führte Dominik Rolli.