Ausgerechnet im Musterland der direkten Demokratie gibt es fast 500 Parlamente. In vielen Gemeinden und Kantonen entscheiden gewählte Politikerinnen und Politiker über wichtige Fragen. Das Stimmvolk kommt nur im Ausnahmefall zum Zug.
Ein neues Lexikon des Solothurner Politologen Michael Strebel zeigt, wie unterschiedlich die Politik in der Schweiz organisiert ist.
Wo hat das Volk am meisten zu sagen?
Grundsätzlich gilt: Auf nationaler und kantonaler Ebene wird die Politik von Regierung und Parlament bestimmt. Im Bundeshaus entscheiden National- und Ständerat, der Bundesrat setzt um. In den Kantonen funktioniert es ähnlich, mit Ausnahme der Landsgemeinde in Glarus und Appenzell Innerrhoden. Grosse Unterschiede gibt es bei den Gemeinden.
In der Deutschschweiz dominieren Gemeindeversammlungen. In Glarus, Uri, Schwyz, Nid- und Obwalden und Appenzell Innerrhoden gibt es kein einziges kommunales Parlament. Einige Kantonsverfassungen verbieten Parlamente indirekt – die Gemeindeversammlung ist als «oberstes Organ» der Gemeinden definiert.
Ganz anders in der romanischen Schweiz: In Genf und Neuenburg gibt es keine Gemeindeversammlungen. Im Tessin haben 90 Prozent der Gemeinden ein Parlament. In der Waadt müssen Gemeinden über 1000 Einwohner zwingend ein Parlament haben.
Sind Gemeindeversammlungen besser?
Darüber gehen die Meinungen auseinander. Am 12. März stimmt etwa Wohlen bei Bern (knapp 10'000 Einwohnerinnen und Einwohner) über die Einführung eines Parlaments ab. Nur an Gemeindeversammlungen sei ein direkter politischer Diskurs möglich, könnten alle ihre Anliegen einbringen. So argumentiert die Gemeinderegierung gegen ein Parlament.
Gemeindeversammlungen führten zu «Zufallsentscheiden», sagt hingegen ein Komitee. Häufig kämen nur wenige Stimmberechtigte, einzelne Interessengruppen könnten stark mobilisieren und sich durchsetzen.
Können Parlamente «direkt-demokratisch» sein?
Es gibt Methoden, damit einzelne Bürgerinnen und Bürger in Parlamenten mitreden können. Im Aargau können sie sogenannte «Bürgermotionen» einreichen. Diese konkreten Forderungen werden im Gemeindeparlament diskutiert und allenfalls an die Regierung überwiesen.
Politologe Michael Strebel: «Meine Recherchen haben gezeigt, dass diese Möglichkeit kaum genutzt wird.» Eine Ausnahme ist die Stadt Aarau. Hier forderten kürzlich drei Bürger, dass man den Stadtbach in der Altstadt freilegt. Allerdings: Die drei sind ehemalige Politiker.
Urnen-Abstimmungen als idealer Ausweg?
Meggen (LU) hat die Gemeindeversammlung abgeschafft. Die Idee kam von der SVP. Sie argumentiert, dass an der Urne mehr Menschen entscheiden als an schlecht besuchten Versammlungen. Das sei demokratischer. Auch in anderen Gemeinden läuft die Debatte, zum Beispiel in Sursee oder Nottwil.
Michael Strebel ist skeptisch. Es müssten gute Lösungen gefunden werden, damit das Volk nicht nur Ja oder Nein sagen könne. An Gemeindeversammlungen oder «offenen» Parlamentssitzungen könnten Bürgerinnen und Bürger auch Ideen einbringen und Argumente austauschen.
Und was ist jetzt die beste Demokratie?
Auch bei den politischen Systemen herrscht in der Schweiz «Kantönligeist», ja sogar «Dörfligeist». So unterschiedlich die Systeme, so unterschiedlich die Argumente dafür und dagegen. Was die «beste Demokratie» ist, das lässt sich – wie zu erwarten war – also nicht abschliessend beantworten.