Viele ehemalige Verdingkinder sind heute zwischen 70 und 90 Jahre alt. Nicht selten befürchten sie, wieder in Abhängigkeit zu geraten. «Die Traumata der Jugend kehren oft im Alter zurück», so Guido Fluri, Initiant der Wiedergutmachungsinitiative für Verdinkinder.
Jemand, der sexuellen Missbrauch erlebt habe, wolle sich im Altersheim teilweise nicht waschen lassen oder könne in einer geschlossenen Umgebung rebellieren. Auch Alterssuizid sei bei Missbrauchsopfern ein Thema. Vor allem aber belaste viele Betroffene das Gefühl der Einsamkeit, der Schuld und Scham.
Für Heim- oder Verdingkinder, die in ihrer Kindheit Missbrauch erlebt haben, sei es wichtig, selbständig und selbstbestimmt leben zu können, so Fluri. Da brauche es Menschen, die wüssten, was sie bewegt; verstünden, warum die Opfer leiden – zum Beispiel andere ehemalige Verdingkinder.
Neue Ausbildung
Die Guide-Fluri-Stiftung hat zusammen mit Pro Senectute das Projekt «Caregiver» ins Leben gerufen hat. «Ehemalige Verdingkinder sollen nicht noch ein weiteres Mal erleben müssen, wie über ihre Köpfe entschieden wird», sagt Marcel Schenk von Pro Senectute Kanton Bern.
Dazu wurde ein erster Lehrgang im Kanton Bern durchgeführt. Das kommt nicht von ungefähr, denn in keinem anderen Kanton gibt es so viele Betroffene.
Bei diesem Pilotprojekt wurden ein halbes Dutzend Personen, die ähnliche Erfahrungen wie Verdingkinder gemacht haben, ausgebildet. Das Projekt soll nun auf andere Kantone ausgeweitet werden. Aus der Westschweiz wurde bereits Interesse signalisiert.
Die «Caregiver» gehen zum Beispiel in Alters- und Pflegeheime und übersetzen die Sorgen und Nöte der Betroffenen fürs Pflegepersonal. Bei Konflikten können sie vermitteln.
In der Ausbildung lernen sie, was Traumata sind, wie sie sich äussern und wie man angemessen reagiert. Auch Themen wie Nähe und Distanz oder Sexualität im Alter werden besprochen.
Hilfe auch für «Caregiver» selbst
Alle Personen, die diese Ausbildung gemacht hätten, seien starke Leute, sagt die Psychologin Lisa Biderbost, die einen Teil der Ausbildung geleitet hat und die «Caregiver» weiter begleitet.
Sie ist selbst ein ehemaliges Verdingkind. Ihre Mutter habe sie unter Zwang zur Adoption freigeben müssen und so kam sie in eine Bauernfamilie im Thurgau zu einem gewalttätigen Vater. Sie habe oft in die Hosen gemacht: «Das hat mit dem Ledergurt Prügel gegeben.» Mit rund vier Jahren sei sie von einem Nachbarn sexuell missbraucht worden.
Später sei sie in eine Pflegefamilie im Toggenburg verlegt worden, wo der sexuelle Missbrauch weiterging. «Man sagte, ich habe ihn verführt, ich war 11 Jahre alt.» Sie kam in eine Erziehungsanstalt, wieder in eine Pflegefamilie, bis sie davon lief.
Da ist meine Geschichte plötzlich eine Stärke.
Jetzt, mit 70 Jahren, habe sie noch etwas machen wollen, «etwas, bei dem meine gesamte Lebenserfahrung hineinkommt.» Nun könne sie mit Leuten arbeiten, deren Empfindungen sie kenne: «Da ist meine Geschichte plötzlich eine Stärke.»
Geschichte holt sie ein
Das Angebot sei nicht nur für die Menschen in den Heimen eine Hilfe, sondern auch für die «Caregiver» selber. «Es ist eine Versöhnung», meint Biderbost. Sie würden sich zusammen mit ihren Leben versöhnen.
Viele werden in alte Geschichten zurückfallen.
Es könne aber sein, dass dieser Kontakt zu anderen ehemaligen Verdingkindern bei den Betroffenen die alten Geschichten zurückbrächten: «Ich hoffe, es werden nicht zu viele in ihr Trauma zurückfallen. Aber das wird es geben.» Sie werde deshalb die «Caregiver» eng begleiten. Wie viele Betroffene sich melden werden, sei völlig offen: «Es können fünf oder 200 sein.»