Eine Postfiliale im Zürcher Oberland, im Januar 1996. Nach dem Eindunkeln stürmen drei Maskierte herein, bedrohen drei Angestellte mit Waffen. Eine davon ist Irene Huber. Für sie, die in Wirklichkeit anders heisst, scheint die Zeit stehenzubleiben. «Ich glaubte, die bringen mich um.»
Die Täter können mit dem erbeuteten Bargeld fliehen, werden aber wenig später gefasst und kommen ins Gefängnis. Vergessen wird Irene Huber dieses Erlebnis nie. 77 ist sie heute, tagsüber plagt sie Ängstlichkeit, nachts hat sie Albträume.
Fragen stellen zu können, war eine Erleichterung
Jahre nach der Tat erkennt Irene Huber den Haupttäter in einer TV-Talkshow wieder. Der Mann gibt sich geläutert, Huber macht das wütend. Sie beschliesst, ihn zu kontaktieren. Fragt ihn, was sie schon lange wissen will: Was war das Motiv? Warum gerade ihre Filiale? Und: Waren die Waffen geladen?
Nur schon, dass sie dem Täter endlich diese Fragen stellen kann, ist für sie eine grosse Erleichterung. Erst recht, als ein Brief mit den Antworten zurückkommt. Der Täter schlägt ein persönliches Treffen vor. Erst zögert Irene Huber, willigt dann aber ein – wenn auch mit gemischten Gefühlen.
Konfrontation soll zu jederzeit möglich werden
Irene Huber ist diesen Weg alleine gegangen, ohne Unterstützung. Kriminologin Claudia Christen, Präsidentin des Forums für restaurative Justiz, möchte dagegen, dass solche Kontakte mit dem Täter für alle Opfer eine Option sein können. Darum will sie das Verfahren im Gesetz verankern: «Wichtig wäre es, dass es so verankert würde, dass es für die Betroffenen zu jedem Zeitpunkt möglich ist, einen restaurativen Prozess zu beantragen.»
Das heisst: kurz nach der Tat, nach einer Verurteilung oder erst im Strafvollzug. Und: Ein Dialog zwischen Opfer und Täter müsse möglich sein – egal, wie schwer ein Verbrechen gewesen sei. Entscheidend sei nur, ob die Opfer eine Konfrontation wünschen und ob es ihnen helfe. «Das ist die ausschlaggebende Frage», sagt Christen.
Sollen Täter eine Belohnung bekommen?
Der Europarat empfiehlt seinen Mitgliedstaaten, also auch der Schweiz, solche Verfahren des Opfer-Täter-Ausgleichs vorzusehen. Umstritten ist allerdings, inwiefern es Täterinnen und Tätern im Strafverfahren Vorteile bringen soll, wenn sie dazu einwilligen. Der Nationalrat fand im letzten März: Die Strafbehörden könnten das positiv berücksichtigen.
Die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte dagegen stehen dem kritisch gegenüber. Der Zürcher Oberstaatsanwalt Beat Oppliger, Präsident der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz warnt: Der Opfer-Täter-Ausgleich könnte plötzlich den Interessen des Opfers zuwiderlaufen.
Nämlich dann, wenn der Täter das Opfer unter Druck setzt, in solch eine Mediation einzuwilligen. «Das wäre insbesondere bei Konstellationen wie häuslicher Gewalt fatal und sicherlich nicht gewünscht.»
Es ist fraglich, ob die Konfrontation im frühen Verfahrensstadium Sinn ergibt.
Laut den Staatsanwälten könnten solche Opfer-Täter-Kontakte ein Verfahren zudem verzögern und verteuern. Oppliger sieht ein Potenzial der restaurativen Justiz vor allem dann, wenn eine Täterin oder ein Täter schon im Gefängnis sitzt. Dann könne sie auch eine präventive Wirkung haben – damit sich Taten nicht wiederholen. «Es ist dagegen fraglich, ob es im frühen Verfahrensstadium Sinn ergibt.»
Irene Huber hatte die Kraft, den Posträuber von damals aus eigenem Antrieb zu kontaktieren. Sie ist überzeugt: Die restaurative Justiz, etabliert als anerkanntes Verfahren, könnte noch viel mehr Opfern helfen – so, wie ihr die Konfrontation mit dem Täter etwas gebracht hat.