Mit der Verschiebung der Agrarpolitik 2022 zeigt der Bauernverband abermals, wie gut vernetzt er in Bern ist. Er spielt damit auf Zeit. Im kommenden Juni stimmt die Bevölkerung über die Trinkwasser- und die Pestizid-Initiative ab. Bis dahin wird eine intensive Debatte geführt werden über die schädlichen Auswirkungen der Landwirtschaft. Der Bauernverband möchte die Agrarpolitik lieber dann diskutieren, wenn die Initiativen vom Tisch sind. So dürfte die Reform milder ausfallen, lautet das Kalkül.
Damit blendet der Bauernverband aus, was für ernsthafte Herausforderungen sich stellen.
Schlechte Werte
Nehmen wir das Spritzen: Jedes Jahr kaufen Bauern in der Schweiz 2000 Tonnen Pflanzenschutzmittel. Wo sie diese Pestizide und Herbizide spritzen ist nicht bekannt. Darüber werden im Gegensatz zu anderen Ländern keine Daten erhoben. Bekannt sind allerdings die Auswirkungen. Die Pestizide belasten das Grundwasser in landwirtschaftlichen Gebieten. Das ETH-Wasserforschungsinstitut EAWAG weist in Messungen regelmässig nach, dass Grundwasser und Flüsse von Pestizidrückständen belastet werden, die die zulässigen Grenzwerte stark übersteigen. Die Forscherinnen und Forscher orten Handlungsbedarf.
Nehmen wir das Düngen: Die Bauern tragen zu viel Gülle aus. Das gesamte Mittelland weist kritische Ammoniak-Werte in der Luft auf, wie Karten des Bundesamtes für Umwelt BAFU zeigen.
Die Eidgenössische Fachkommission für Lufthygiene publizierte dazu neulich einen Bericht und kritisierte die Landwirtschaftspolitik scharf: Die immer wieder formulierten Etappenziele seien jeweils nicht erreicht und in der Folge mehr oder weniger unverändert in die nächste Etappe geschoben worden. Es «fehlten genügend verbindliche Vorgaben zur Emissionsminderung». Darunter leiden Wälder und die Artenvielfalt auf Naturwiesen und Moore.
Bedrohte Tierarten
Nehmen wir das Artensterben: Laut Angaben des Bundesamtes für Umwelt sind über vierzig Prozent der Tierarten in der Schweiz bedroht, darunter Bienen, Singvögel und Wirbeltiere.
Schuld daran ist nicht nur die Landwirtschaft. Es ist auch die Zubetonierung von natürlichen Lebensräumen mit Häusern und Verkehrswegen. Aber die Landwirtschaft ist etwa durch das Bienensterben direkt betroffen und könnte einen wesentlichen Beitrag leisten, um die Biodiversität zu schützen.
Ohne die Agrarpolitik 2022 stehen den Trinkwasser- und Pestizid-Initiativen nur eine knappe Vorlage entgegen, die im Parlament momentan als inoffizieller Gegenvorschlag ausgearbeitet wird: Demnach sollen die Risiken für Flüsse und Seen naturnahe Lebensräume und als Trinkwasser genutztes Grundwasser bis 2027 um 50 Prozent reduziert werden. Es ist aber kein konkreter Absenkpfad vorgesehen, der Einsatz von Stickstoff- und Phosphor soll «angemessen reduziert» werden. Das ist kein sehr griffiger Vorschlag.
Riskantes Spiel
Die Zeit drängt, doch die Politik spielt Eile mit Weile. Die Agrarpolitik 2022 hätte die Landwirtschaft verpflichtet, mehr zu tun, um Gewässer und Ökosysteme zu schützen. Das wird nun vertagt. Die Strategie des Bauernverbandes ist aufgegangen.
Aber diese Strategie birgt Risiken. Die Anliegen der Trinkwasser- und Pestizid-Initiativen sind in der Bevölkerung beliebt. Entsteht der Eindruck, die Landwirtschaft und Politik seien nicht gewillt, die Probleme anzugehen, so erhalten sie mehr Zuspruch. Wenn die Initiativen angenommen werden, müsste sich die Schweizer Landwirtschaft schneller und grundlegender reformieren als je zuvor.