Der Bundesrat tut sich schwer mit der Frage, wie es in der Beziehung mit der Europäischen Union weitergehen soll. Am Mittwoch ging er in Klausur, informierte aber nicht über seine Beratungen.
Die zentralen Punkte der Diskussion sind der bisherige bilaterale Weg und ein zukünftiges Rahmenabkommen mit der EU. «Wir machen hier eine Art Schattenboxen, wir wissen nicht, was der Bundesrat bereits verhandelt hat», sagt Regula Rytz (Grüne). Auch für Gerhard Pfister (CVP) ist das «ein wenig Stochern im Nebel». Und auch Petra Gössi (FDP) sagt: «Faktisch wissen wir kaum, worüber wir diskutieren.»
Was sind eigentlich die Interessen der Schweiz?
Die Schweiz und die EU entwickeln sich weiter und neue zusätzliche Abkommen sind nötig. Doch diese will die EU mit der Schweiz nicht abschliessen ohne ein Rahmenabkommen.
Ein Rahmenabkommen brauche es gar nicht, sagt Thomas Matter (SVP). Wenn es einen neuen bilateralen Vertrag brauche, werden man diesen abschliessen. Aus der Politik höre er nur das Argument einer guten Beziehung zur EU. Und die Wirtschaft erwarte potenziell zwei bis drei Prozent mehr Exporte in den EU-Raum.
Aber dafür deponiere ich mein Stimmrecht nicht in Brüssel.
«Das Interesse der Schweiz liegt daran, ohne Souveränitätsverlust einen guten Markzugang zur EU zu haben», sagt Gössi. Sie nennt als Beispiel die Anerkennung der Schweizer Börsenregulierung (Börsenäquivalenz) nur für ein Jahr. «Das war ein rein politischer Entscheid, ohne inhaltliche Begründung.» Wenn es Streitschlichtungsmechanismen gäbe, könnte man wegen dieser unverhältnismässigen Bestrafung zu einem Schiedsgericht gehen. «Aber jetzt können wir gar nichts machen», so Gössi.
Sehr unzufrieden mit der «ungesunden» Entwicklung der vergangenen Monate ist auch Christian Levrat (SP). «Diese Ansammlung von Konflikten mit der EU wie ‹Horizon 2020› oder ‹Erasmus›, diese laufenden Sticheleien, bringen uns nirgends hin. Wir brauchen geregelte Verhältnisse.»
Für Jürg Grossen (GLP) bedeuten die zunehmend «brüchig» werdenden Verträge mit der EU eine zunehmende Benachteiligung für Schweizer Unternehmen, wenn sie in den EU-Raum exportieren wollen. «Wenn wir darum ein Rahmenabkommen brauchen, dann gehört das halt dazu und auch die Weiterentwicklung der Bilateralen III.»
Rahmenvertrag nicht um jeden Preis
Als erklärter Gegner eines Rahmenvertrags betont Matter, dass der Grossteil des Handels auf Freihandelsabkommen basiere und nicht auf den bilateralen Verträgen. «Ein Vertrag ist immer statisch. Wenn sich das Recht verändert, nimmt man wieder Anpassungen vor.»
Auch für Pfister sind die bilateralen Verträge nicht so brüchig wie dies im Erklärvideo dargestellt sei. Sonst «würden sich weite Kreise der Wirtschaft sehr viel vehementer für eine Weiterentwicklung der Verträge einsetzen.»
Der Bundesrat wolle ein Rahmenabkommen nur, wenn es der Schweiz einen Nutzen bringe, betont Gössi.
Der Bundesrat hat klar aufgezeigt, dass er nicht bereit ist, zu allem Konzessionen zu machen.
Auch Levrat findet es wichtig, «nicht à tout prix einen Vertrag abzuschliessen.» Aber man müsse der Bevölkerung sagen, dass dies unter gewissen Voraussetzungen im Interesse der Schweiz sei.
Matter äussert «Verständnis» für Levrat, denn «er ist der einzige hier, der in die EU will». Levrat hält hart dagegen: Wenn er das SP-Parteiprogramm realisieren möchte, würde er diesen Rahmenvertrag ablehnen, denn das wäre der schnellste Weg in die EU. «Dann wären wir in einer Sackgasse, die uns zwingen würde, der EU beizutreten.» Aber derzeit sehe er keine Mehrheit für einen EU-Beitritt. Darum gehe es nur mit bilateralen Verträgen.
Klares Ja oder Nein zu den Bilateralen
Ein solcher «Anbindungsvertrag» führe in Riesenschritten Richtung EU, sagt Matter: «Die Schweiz will einen solchen Kolonialvertrag nicht übernehmen.»
Pfister widerspricht ihm, denn kein Land habe in den letzten 20 Jahren so oft – nämlich 11 Mal – Ja gesagt habe zu einer guten Zusammenarbeit mit der EU. Und selbst bei der Masseneinwanderungs-Initiative sei ein Argument der Befürworter gewesen, sie gefährde die bilateralen Verträge nicht. Darum habe das Volk Ja gesagt.
Um eine klare Antwort des Volkes zu den Bilateralen zu bekommen, begrüsst Pfister die kommende «Initiative für eine massvolle Zuwanderung» («Begrenzungsinitiative») der SVP, auch «Kündigungsinitiative» genannt, die sich gegen die Personenfreizügigkeit (in den Bilateralen I) ausspricht (Unterschriftensammlung).
Die Frage sei: «Will das Schweizer Volk den bilateralen Weg weiterführen? Ja oder Nein. Wenn diese Initiative kommt, haben wir diese Grundsatzentscheidung», so Pfister.
Wie souverän ist die Schweiz wirklich?
Zur Frage der Souveränität der Schweiz stellt Levrat klar, dass sich 70 Prozente der Schweizer Gesetze direkt auf EU-Recht abstützen. Die Souveränität spiele aber nicht uneingeschränkt. So müsse sich die Schweiz auch an die OECD- oder WTO-Spielregeln halten. Die zentrale Frage sei aber: «Sind wir dabei, wenn übergeordnetes Recht entwickelt wird? Bei der EU sind wir nicht dabei. Es droht, dass wir bei der EU zum Passivmitglied werden.»
Pfister relativiert, weil er den Nutzen eines Rahmenvertrages im Moment nicht sieht. Er sei darum auch sehr einverstanden mit Bundesrat Ignazio Cassis, der auch zuerst schauen wolle, ob dies im Interesse des Landes sei.
Die Zurückhaltung beim Rahmenvertrag höre aber dann auf, so Pfister an Matter gerichtet, «wo Sie die Bilateralen ‹killen› wollen mit der ‹Begrenzungsinitiative›». Denn bei einer Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens fallen alle bilateralen Verträge wegen der Guillotine-Klausel weg.
Auch Martin Landolt (BDP) wirft der SVP eine Isolations-Strategie vor mit dem Ziel eines Ausstiegs aus den Bilateralen: «Wir tapferen Eidgenossen verteidigen dieses Land mit der Hellebarde zwischen den Zähnen und die bösen Vögte in Brüssel müssen bekämpft werden.» Die Schweiz sei zwar politisch souverän, aber nicht allein mitten in Europa.
Man will zurück ins Reduit.
Auch Jürg Grossen betont, dass die Wirtschaft ein Ausstieg aus den Bilateralen nie und nimmer unterstützen würde: «Die Schweiz hat eine Handelstradition und kann nicht plötzlich aussteigen.»
Das Ende der flankierenden Massnahmen?
Die SVP wolle die geltenden flankierenden Massnahmen direkt angreifen, erklärt Regula Rytz. Heute hätten viel mehr Leute in der Schweiz einen Gesamtarbeitsvertrag und einen Minimallohn. «Und das stört die SVP, weil es kein liberaler Arbeitsmarkt mehr ist. Sie wollen an die Löhne der Leute.»
Vor dem Personenfreizügigkeits-Abkommen habe die Schweiz gar keine flankierenden Massnahmen gebraucht, weil es keinen Lohndruck gab, entgegnet Matter. Wenn die Freizügigkeit wegfalle, gäbe es wieder Kontingente bei der Zuwanderung wie seit 1970 bis 2007. «Es gibt dann auch keinen Lohndruck mehr.»
Levrat betont, dass während den grössten Migrationwellen vor der Personenfreizügigkeit in den 1960er und 70er Jahren die Leute nicht geschützt waren vor Lohndumping.
Sie verwechseln das Rahmenabkommen mit dem Businessplan von Frau Martullo-Blocher.
Pfister ergänzt, dass es auch für die Bauern nichts Gutes heissen würde, wenn die Bilateralen wegfielen und es als Alternative lediglich ein Freihandelsabkommen mit der EU gäbe. Ohne die flankierenden Massnahmen würde zudem die Migration von Billig-Arbeitskräften angeheizt, «die den Schweizern die Arbeitsplätze wegnehmen».
Die Diskussion um die Fortsetzung des bilateralen Wegs und ein zukünftiges Rahmenabkommen wird neben den inhaltlichen Differenzen auch von einem knappen Zeitbudget dominiert. Denn es herrscht Einigkeit darüber, dass das von Aussenminister Cassis definierte Zeitfenster für Verhandlungen mit der EU bis Ende Jahr nur sehr kurz offen steht. Und damit steigt der selbst auferlegte politische Druck für eine Entscheidung oder einen nächsten Schritt.