Das Alter bleibt ein Kriterium beim Triagieren, sollten Intensivbetten für Corona-Patienten knapp werden – allerdings wird das Alters-Kriterium präzisiert. Die Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat die entsprechenden Richtlinien angepasst. SAMW-Vizepräsident Daniel Scheidegger erklärt der «Rundschau» die Änderungen.
SRF: Sie haben die umstrittenen Alterslimiten von 75 und 85 Jahren präzisiert. Wie genau?
Daniel Scheidegger: Ein Kritikpunkt war ja, dass wir mit der Altersgrenze 85+ topfitte Leute, die in diesem Alter vielleicht noch auf Berge steigen, von der intensivmedizinischen Behandlung ausschliessen würden. Das haben wir präzisiert, indem man jetzt schaut, wie selbstständig diese Leute im Alltag noch sind. Das kann man mit einem Index messen. Mit diesem Index haben wir die Altersgrenzen ergänzt. Und eben, wenn jemand noch völlig selbstständig ist und alleine lebt, dann spielt das Alter neu keine Rolle.
Wenn jemand noch völlig selbstständig ist und alleine lebt, dann spielt das Alter neu keine Rolle.
Da haben Sie auf Kritik reagiert und präzisiert?
Ja. Es gibt auch andere Punkte, die wir präzisiert haben. Im März sind die Richtlinien innert kürzester Zeit entstanden. Auch die heutigen Richtlinien werden nicht perfekt sein. Man lernt immer dazu.
Jetzt haben Sie diese Altersgrenzen präzisiert. Aber Sie halten an Altersgrenzen fest. Wieso?
Weil das Alter in der Medizin einfach eine entscheidende Rolle spielt. Bei allem und bei jedem. Wenn jemand älter wird, dann nützen gewisse Behandlungen einfach nichts mehr. Mit allem, was in den letzten sieben Monaten passiert ist, wissen wir heute einfach, dass Leute in einem gewissen Alter diese Viruspneumonie fast nicht überleben. Und damit ist eine intensivmedizinische Behandlung eben eine Therapie, die man nicht anwenden sollte. Und es geht ja nicht nur ums Überleben. Sondern auch ums «wie Überleben» und die Lebensqualität danach.
Juristen sagen, Altersgrenzen würden das Diskriminierungsverbot und damit die Bundesverfassung verletzen.
Ich nehme das zur Kenntnis. Und wenn man mich angreift oder wenn ich vor Gericht muss, dann gehe ich.
Aber noch einmal: Juristen sagen, Altersgrenzen seien diskriminierend?
Für mich ist das realitätsfremd. Während meiner ganzen Laufbahn als Arzt hat mich das begleitet, dass das Alter ein ganz entscheidender Punkt ist. Auch eine Frage im Sinne des Patienten. Ist das in diesem Alter noch sinnvoll? Intensivpflege ist eine unangenehme Erfahrung. Wenn ich weiss, dass es nichts bringt, dann darf ich es einem Patienten auch aus ethischen Gründen als Mediziner nicht mehr antun.
Wenn Sie persönlich Corona hätten und man Sie intensivmedizinisch betreuen und beatmen müsste – möchten Sie das?
Nein. Für mich ist klar, dass ich das nicht möchte. Das wissen auch alle. Nein, ich möchte nicht mehr auf eine Intensivstation. Ich möchte so weiterleben wie bisher mit guter Lebensqualität. Ich möchte nicht in Kauf nehmen, mit einer schweren Schädigung nach der Intensivpflege weiterzuleben.
Wir wollen nicht über die Endlichkeit von uns allen reden. Aber wir können nicht mehr für alle alles machen.
Rationierungen im Gesundheitswesen sind ein grosses Tabuthema. Sollten wir das offener diskutieren?
Unbedingt. Und zwar gesellschaftlich. Es soll nicht eine politische Frage sein. Jeder einzelne von uns ist betroffen. Aber wir wollen nicht darüber reden. Wir wollen nicht über die Endlichkeit von uns allen reden. Aber wir können nicht mehr für alle alles machen.
Das Interview führte Georg Humbel.