Als erster Kanton der Schweiz ermöglicht Genf neu auch Menschen mit schwerer geistiger oder psychischer Beeinträchtigung das Abstimmen und Wählen. Es sind Menschen, die unter umfassendem Beistand stehen. Die Stimmbevölkerung hat am Sonntag eine entsprechende Verfassungsänderung deutlich angenommen – mit 75 Prozent Ja.
UNO-Behindertenrechtskonvention als Leitlinie
Die geografische und ideologische Nähe zur UNO dürfte in Genf eine wesentliche Rolle bei der deutlichen Annahme der Vorlage gespielt haben. Denn dieses Ja hat auch Symbolcharakter. Es ist ein Bekenntnis zur UNO-Behindertenrechtskonvention, die besagt, dass keine Person ihrer politischen Rechte beraubt werden darf.
Die Schweiz hat die Konvention vor sechs Jahren ratifiziert. Der Kanton Genf setzt nun ein Zeichen, diese UNO-Konvention vollumfänglich zu respektieren. Neu dürfen also auch Menschen, die unter der strengsten Form der Beistandschaft stehen, auf kantonaler und kommunaler Ebene wählen und abstimmen.
Missbrauchsbedenken verworfen
Im Kanton Genf betrifft dies rund 1200 Personen. Obwohl das Abstimmungsresultat deutlich ausfiel, gab es im Vorfeld Bedenken wegen Missbrauchs.
Caroline Hess-Klein, Leiterin der Abteilung Gleichstellung beim Dachverband der Behindertenorganisationen Schweiz, Inclusion Handicap, entgegnet: «Das Missbrauchsrisiko bei schwerbehinderten Menschen ist nicht grösser als etwa bei Pensionären in Altersheimen oder bei sehbehinderten Menschen, die ihren Stimmzettel nicht selber ausfüllen könnten.»
Das Missbrauchsrisiko ist nicht grösser als etwa bei Pensionären in Altersheimen oder Sehbehinderten.
Es gebe keinen Grund, Beistände unter Generalverdacht zu stellen, so Hess-Klein. Man sei sich aber bewusst, dass geistig und psychisch behinderte Menschen besondere Unterstützung bräuchten.
Vereinfachte Unterlagen
In Genf werde zum Beispiel bereits darüber nachgedacht, vereinfachte und verständlichere Unterlagen zu kantonalen und kommunalen Abstimmungen zu verschicken. Es gehe auch darum, diesen behinderten Menschen ein Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühl zu vermitteln.
Inclusion Handicap: 60'000 Menschen betroffen
Beim Dachverband der Behindertenverbände hofft man auf eine Signalwirkung aus Genf auf andere Kantone und den Bund, wie der Genfer Mitarbeiter von Inclusion Handicap, Cyril Mizrahi zu Radio RTS sagte.
Der SP-Kantonsparlamentarier war es, der die Vorlage in Genf vorangetrieben hat. Es gebe aber Anfragen von Betroffenen aus der ganzen Schweiz, sagt er. Schätzungsweise rund 60'000 Menschen dürfen ihr Wahl- und Stimmrecht nicht ausüben, weil sie unter umfassendem Beistand stehen.
Es gibt Anfragen von Betroffenen aus der ganzen Schweiz.
Menschen, die in ihren kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt sind, aber auch ältere Menschen, die unter Demenz leiden. Genf nimmt also eine Pionierrolle ein – weitere Westschweizer Kantone könnten folgen. Zurzeit beschäftigen sich auch die Waadt, Neuenburg und das Wallis mit der Frage, ob auch Schwerbehinderte künftig wählen und abstimmen dürfen.