Als am 23. Dezember letzten Jahres eine hochbetagte Frau in einem Luzerner Altenheim geimpft wurde, schien das Ende der Pandemie zum Greifen nah. Doch es folgte ein langer Winter im Shutdown; die Impfkampagne schritt bis weit in den Frühling nur quälend langsam voran.
Nun, über vier Monate später, nimmt sie endlich Fahrt auf. Und auch ausserhalb der Alten- und Pflegeheime ist die Erleichterung immer mehr Menschen ins Gesicht geschrieben: Auch sie haben den langersehnten Piks erhalten.
Doch so manch glücklicher «Impfling» trifft auf ein neues Phänomen, das die Schweiz in diesen Tagen durchzieht: den grossen Impfneid.
Befeuert wird das Gefühl von kantonalen Unterschieden. Während sich mancherorts auch jüngere Menschen bereits einen Impftermin sichern konnten, scheint der erste Piks andernorts noch weit weg. Dann wieder gibt es Glückliche, die auf Umwegen an eine angebrochene Dosis beim Hausarzt kommen konnten.
Kein Wunder, steigt die Ungeduld bei vielen Menschen, sich endlich einen Impftermin ergattern zu können. Jacqueline Frossard von der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen hat sich mit dem Thema Impfneid befasst.
Sie sagt: besonders junge Menschen würden an diesem Gefühl der Ohnmacht, ja auch der Ungerechtigkeit leiden. Denn bei ihnen sei die Wahrnehmung am verbreitetsten, durch die Pandemie etwas verpasst zu haben. Reisen, gemeinsame Erlebnisse mit Freunden, neue Bekanntschaften – all das verwehrte ihnen Corona.
Doch Neid bedeutet nicht zwingend, dass man sich nicht für diejenigen freut, die schon geimpft wurden. «Es gibt auch einen positiven Neid», sagt Frossard. Denn man könne auch Menschen beneiden, die einem nahestehen. Und doch bleibt der Wunsch, sich selber von den Fesseln von Corona befreien zu können.
Es gibt zwar viele Leute, die geimpft sind – aber eben oft auch, weil sie krank sind. Ich kann mir dann sagen: Ich bin zwar nicht geimpft, aber zum Glück gesund.
Doch der Impfneid kann destruktive Züge annehmen, wie die Psychologin schildert. «Dann etwa, wenn man das Gefühl hat, dass sich andere vordrängeln und ich zur Seite geschoben werde.» Wenn gesellschaftliche Privilegien oder Dreistigkeit belohnt würden, könne dies auch Wut auslösen.
Auch der persönliche Erfahrungshorizont kann sich negativ oder positiv auswirken. Für notorische Pechvögel kann es eine schmerzhafte Erfahrung sein, ein weiteres Mal zurückgebunden zu werden. Wer immer auf der Sonnenseite des Lebens stand, mag das für einmal verkraften.
Was tun gegen Impfneid?
Die Psychologin empfiehlt generell, den Fokus darauf zu richten, was man selber hat. «Es gibt zwar viele Leute, die geimpft sind – aber eben oft auch, weil sie krank sind. Ich kann mir dann sagen: Ich bin zwar nicht geimpft, aber zum Glück gesund.»
Und auch wer bei uns warten muss, gehört im globalen Vergleich zu den glücklichen Wenigen, die so früh in der Pandemie Aussicht auf eine Impfung haben. «Man kann das Gefühl des Neides auch als wertvolles Signal nehmen und es zum Anlass dafür nehmen nachzudenken, was im eigenen Leben gut verlaufen ist», sagt Frossard. Zu schämen brauche sich aber niemand für aufkeimenden Neid. Denn der ist für die Psychologin vor allem eines: menschlich, allzu menschlich.