Zuerst Corona, jetzt die Rettung der Stromkonzerne: In Krisenzeiten greifen Regierungen vermehrt auf Notverordnungen zurück. Auch die Rettung der UBS im Jahr 2008 basierte auf dem sogenannten «Notrecht». Weil dabei eine gesetzliche Grundlage fehlt, stellen sich demokratiepolitische Fragen. Andreas Glaser, Professor für Staatsrecht an der Universität Zürich, ordnet die Lage ein.
SRF News: Herr Glaser, sind wir in einem Zeitalter der Notverordnungen angelangt?
Andreas Glaser: Ja. Der Bundesrat erlässt seit der Covid-19-Pandemie öfter Notverordnungen. Das heisst, er trifft Regelungen, die so genau nicht in einem Gesetz vorgesehen sind, beispielsweise bei der Maskenpflicht, Beschränkungen von Veranstaltungen oder jüngst bei der Rettung der Axpo. Aus demokratischer Sicht ist es problematisch, wenn derart wichtige Regelungen nicht vom Parlament unter Vorbehalt des Referendums beschlossen werden.
Kann es sein, dass die Bevölkerung dadurch Vertrauen in die Demokratie verliert?
Der Bundesrat ist durch das Parlament gewählt. Von daher ist die Befugnis zum Erlass von Notverordnungen im Rahmen der Demokratie vorgesehen. Je mehr politisch umstrittene Regelungen der Bundesrat ohne Mitsprache des Parlaments und des Volkes erlässt, umso eher besteht jedoch die Gefahr, dass das Vertrauen in die Institutionen verloren geht.
Weshalb muss der Staat zu Notverordnungen zurückgreifen?
Im internationalen Vergleich hat man in der Schweiz vieles schon durch Gesetze geregelt und sich auf Krisen vorbereitet. Dies galt für das Epidemiengesetz und nun für das Landesversorgungsgesetz. Das Problem ist, dass man beim Erlass des Gesetzes nicht genau voraussehen konnte, welche möglicherweise sehr einschneidenden Massnahmen notwendig sein werden.
Notverordnungen sind bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich.
Notverordnungen sind bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich. Die Herausforderung ist, dass das Parlament die Notverordnung so schnell wie möglich in ein Gesetz überführt, auch mit inhaltlichen Korrekturen. Mit dem Covid-19-Gesetz ist dies nur teilweise gelungen, immerhin wurde dadurch aber ermöglicht, dass es Volksabstimmungen gab.
Notverordnungen dürfen nur sechs Monate in Kraft sein. Dann braucht es ein Gesetz. Droht mit diesem Mechanismus nicht, dass Entscheidungen der Regierung im Nachhinein gerechtfertigt werden?
Ja. Das Problem ist, dass der Bundesrat den Inhalt des späteren Gesetzes bereits vorwegnimmt und der Spielraum des Parlaments sehr klein ist. Dies ist aber immer noch die bessere Alternative, als dem Bundesrat einfach die Gesetzgebung zu überlassen. Durch das Referendum erlaubt der Mechanismus somit zwar nur punktuelle Korrekturen durch das Parlament, aber die Stimmberechtigten erhalten ein Vetorecht.
Inwiefern äussert sich das Bundesgericht zu Notverordnungen?
In der Tat gibt es kaum Rechtsprechung des Bundesgerichts dazu. Verordnungen des Bundesrates können auch nicht beim Bundesgericht angefochten werden. Nur im Nachhinein anhand eines Einzelfalls könnte eine rechtliche Überprüfung erfolgen.
Der Bundesrat verfügt über einen sehr weiten Spielraum.
In der Pandemie betraf die Rechtsprechung des Bundesgerichts allerdings fast ausschliesslich Massnahmen der Kantone. Dem Bundesrat werden in der Verfassung (Art. 185 Abs. 3 BV) weitreichende Vollmachten erteilt, er verfügt dabei über einen sehr weiten Spielraum. Es ist in Zukunft nicht zu erwarten, dass hier engere Grenzen gesetzt werden. Die Kontrolle des Bundesrates kommt damit in erster Linie dem Parlament zu.
Das schriftliche Interview führte Pascal Studer.