Liegt die Reproduktionszahl – auch R-Wert genannt – unter 1, geht die Zahl der täglichen Neuinfektionen zurück – liegt er darüber, steigen sie an. Hinter dieser simplen Aussage stecken komplexe mathematische Berechnungen. Und – so exakt die Zahl erscheint, bleibt sie eine Schätzung, was vor rund zehn Tagen war. Immer wieder wird der Wert auch nachträglich angepasst, was zu Verunsicherung führt. Verantwortlich für die Berechnung des R-Werts ist Task Force-Mitglied und ETH-Professorin Tanja Stadler.
SRF News: Wieso verändern sich die publizierten R-Werte für einen bestimmten Tag nachträglich?
Tanja Stadler: Die effektive Reproduktionszahl R gibt an, wie viele Personen eine infizierte Person im Durchschnitt ansteckt. Da wir den «wahren» R-Wert aber während einer Pandemie nicht ermitteln können, machen wir eine statistische Schätzung des R-Werts. Neue Daten erlauben uns dann, den R-Wert besser abzuschätzen und nachträglich zu korrigieren.
Geht mit solchen nachträglichen Anpassungen nicht das Vertrauen der Menschen verloren?
Für mich ist es sehr wichtig, dass die Menschen verstehen, wie der R-Wert zustande kommt und was er aussagt. Die Schätzung vom R-Wert gibt immer nur einen Trend an, wie sich die Infektionszahlen vor rund zwei Wochen entwickelt haben.
Aus Sicht der Task Force sollte die Schätzung der Reproduktionszahl nie als einzige Grösse verwendet werden, um die epidemiologische Lage zu beurteilen und Entscheidungen zu fällen.
Diese Schätzung ist zudem immer mit Unsicherheiten verbunden, die wir in der Wissenschaft berechnen und auch immer angeben. Aus Sicht der Task Force sollte die Schätzung der Reproduktionszahl nie als einzige Grösse verwendet werden, um die epidemiologische Lage zu beurteilen und Entscheidungen zu fällen.
Weitere Informationen zum R-Wert
Wäre es nicht sinnvoller, den Fokus auf die Entwicklung des durchschnittlichen R-Werts der letzten sieben Tage zu legen – analog dem Tagesschnitt der letzten sieben Tage bei Fallzahlen?
Wir fokussieren nicht nur auf tagesaktuelle Schätzungen der Reproduktionszahl, sondern berücksichtigen insbesondere auch den 7-Tages-Schnitt – zusammen mit anderen Indikatoren bei der Lagebeurteilung. Wir kommunizieren deshalb den 7-Tages Wert prominent auf unserer Internetseite. Vergangene R-Werte für einzelne Tage sind aber hilfreich, um abzuschätzen, ob getroffene Massnahmen gegriffen haben.
Der 7-Tagesschnitt der Neuinfektionen, der Hospitalisierungen und Todesfälle geht im Vergleich zur jeweiligen Vorwoche seit längerem zurück – wie passt das zu einem R-Wert, der nur knapp unter 1 liegt?
Der R-Wert für Hospitalisierungen und Todesfälle liegt im Mittel klar unter 1. Neuinfektionen sind in den letzten Tagen weniger stark gefallen und der R-Wert ist daher etwas höher.
Am 25. Januar wurde die Berechnungsmethode angepasst. Was wurde da genau angepasst? Führt die neue Methode zu grösseren Korrekturen bei den Nachberechnungen?
Wir geben immer ein 95 Prozent-Unsicherheitsintervall bei den Schätzungen der Reproduktionszahl an. Das bedeutet, dass in 95 Prozent der Fälle die tatsächliche Reproduktionszahl innerhalb des Intervalls liegt. Da wir gesehen haben, dass wir bei hohen Fallzahlen nicht mehr immer in diesem Bereich lagen, bestimmen wir das Unsicherheitsintervall neu mithilfe einer sogenannten Block-Bootstrapping-Methode (Anmerkung der Redaktion: ein mathematisches Verfahren aus dem Bereich der Statistik). In Simulationen sehen wir, dass diese neue Methode die Unsicherheit der Schätzungen besser widerspiegelt. Auch liegen die nachträglichen Korrekturen typischerweise im ursprünglich angegebenen Unsicherheitsintervall.
Das Gespräch führten Matthias Schmid und Lukas Füglister.