Darum geht es: Um alles – zumindest für Bundesrat Alain Berset. Die «Altersvorsorge 2020» ist sein politisches Vermächtnis. Scheitert sie, scheitert auch der Sozialminister mit dem zentralen Dossier seiner Bundesratslaufbahn. Die Einsätze beim Rentenpoker waren hoch, unter der Woche hatte sich ein wahrer Polit-Krimi aufgebaut: An der Einigungskonferenz setzte sich das von Mitte-Links favorisierte «Ständeratsmodell» durch. SVP und FDP kündigten Fundamentalopposition an, während die GLP in letzter Sekunde einlenkte. Prognosen waren Glückssache.
So wurde entschieden: Dass die Vorlage den Ständerat passieren würde, war klar (27 zu 17 Stimmen) – immerhin stimmte er über das nach ihm benannte Modell ab. Der eigentliche Rentenpoker fand im Nationalrat statt: FDP- und SVP-Fraktion hatten die Vorlage im Vorfeld zum «strategischen Geschäft» erklärt. Übersetzt: eine rote Karte für potenzielle Abweichler. Schliesslich ging die Abstimmung im Nationalrat mit dem knappest möglichen Ergebnis aus: 101 zu 91 Stimmen bei 4 Enthaltungen segnete die grosse Kammer Bersets Prestige-Projekt ab. Die qualifizierte Mehrheit von 101 war erreicht. Punktlandlung.
Die Debatte im Nationalrat:
Die Luft war erwartungsgemäss zum Schneiden im Nationalrat, das Zähneknirschen unüberhörbar: «Von Kompromiss kann keine Rede sein, das war ein Diktat!», geisselte Thomas de Courten (SVP/BL) die Einigungskonferenz vom Dienstag. Lorenz Hess (BDP/BE) rief die Gegner der Vorlage auf, «keine Arbeitsverweigerung» zu leisten. FDP-Fraktionschef Ignazio Cassis wollte indes nicht zum «Brandbeschleuniger» werden: «Denn die Jugend von heute wird den Brand dereinst löschen müssen.»
Grünen-Nationalrätin Christine Häsler griff zu einer umweltverträglichen Analogie: «Auch wir mussten Kröten schlucken». GLP-Mann Thomas Weibel machte auf das staatspolitische Dilemma seiner Partei aufmerksam: «Wir sagen Ja zur Vorlage, aber nicht zum Inhalt der Vorlage.» SVP-Sozialpolitiker Sebastian Frehner zu beidem Nein: «Das ist eine Steinzeitlösung.»
Die Debatte im Ständerat:
Während es in der grossen Kammer ans Eingemachte ging, verlief die Debatte in der Schwesterkammer gesetzter. Nichtsdestotrotz: Gegenseitige Vorwürfe gab es auch hier. Die nachfolgende Generation werde «wahrscheinlich nicht stolz darauf sein», was nun auf dem Tisch sei, meinte Alex Kuprecht (SVP/SZ). Gewerkschafter Paul Rechsteiner (SP/SG) – federführend beim umstrittenen 70-Franken-Zustupf für die AHV – intervenierte: «Unser Modell hat sich immer als überlegen erwiesen».
Ansichtssache, fand Roland Eberle (SVP/TG) – und geisselte die Konsensfindung der letzten Tage: «Einzelne Mitglieder haben sich zu Drohungen verstiegen, das ist unerhört, unwürdig und gefährlich.» CVP-Ständerat Pirmin Bischof gab sich – sinnigerweise – als Mann der Mitte: «Die Welt ist nie alternativlos», aber nach Jahrzehnten des Scheiterns brauche es nun endlich eine Lösung.
Das sagt der Bundesrat: Der Sozialminister wirkte in der Debatte – zumindest nach aussen – gefasst. Und er liess es in der Stunde der Wahrheit menscheln: «Die Emotionen, die Leidenschaften gehen hoch. Das ist normal und zutiefst menschlich – am Ende sind wir keine Maschinen», sagte Berset im Ständerat. Und dann noch einmal fast wortgleich im Nationalrat. Am Ende meinten es auch die von Menschenhand geführten Abstimmungsknöpfe gut mit dem Bundesrat: Er darf sich für die letzten grossen Rentenschlachten wappnen: Sein persönliches Alterswerk biegt in die Zielgerade.
So geht es weiter: Obwohl der Nationalrat die Vorlage heute zähneknirschend angenommen hat, ist die Absturzgefahr noch nicht gebannt: Morgen Freitag steht die Schlussabstimmung an. Dass das gleiche Ergebnis wie heute herauskommt, ist nicht garantiert: Die Mehrheitsverhältnisse sind knapp. Bereits einzelne Absenzen oder Meinungsumschwünge könnten das grosse Rentendebakel herbeiführen. Kommt die Reform endgültig durchs Parlament, richtet am 24. September das Volk.