Im historischen Gotthardbahn-Depot spürt und riecht man auch heute noch die vergangenen Zeiten. Die alten Lokomotiven erinnern daran, dass Erstfeld einst nicht von der Bahn zu trennen war. «Es gibt keine Familie in Erstfeld, in der es nicht jemanden gibt, der bei der Eisenbahn gearbeitet hat», sagt die Gemeindepräsidentin Pia Tresch. Die Urner Gemeinde gilt noch immer als Eisenbahner-Dorf.
Allerdings ist von dieser Blütezeit nicht mehr viel übrig: In den 1990er-Jahren arbeiteten rund 650 Personen für die Bahn – heute sind es nur mehr knapp 150. Auch Züge rollen nur noch selten durch den Bahnhof. Die meisten verschwinden einige Kilometer vor dem Dorf im Berg und brausen durch den Gotthard-Basis-Tunnel. Mit der Neat verlor Erstfeld an Wichtigkeit.
Arbeitsplätze wurden abgebaut, Einwohnerinnen und Einwohner zogen aus Erstfeld weg: Die Zahl der Bevölkerung ging von 4500 auf 3800 zurück – entsprechend sanken auch die Steuereinnahmen.
Kompetenzzentrum für Umgang mit Naturgefahren
Dass die SBB in Erstfeld kaum mehr präsent sei, davon Abschied zu nehmen, brauche Zeit, sagt Gemeindepräsidentin Pia Tresch. Und trotzdem: Erstfeld will der Vergangenheit nicht nachtrauern, sondern vorwärts schauen. Eine Projektgruppe hat in den vergangenen Monaten ausgelotet, welche neuen Möglichkeiten es für Erstfeld gibt. Die Vertreterinnen und Vertreter von Gemeinde und Kanton kommen zum Schluss: Erstfeld soll zum Kompetenzzentrum für den Umgang mit Naturgefahren werden.
Ich denke an Hochwasserschutzmassnahmen, Lawinensicherungen oder Sicherung von Verkehrswegen.
Bereits heute gebe es in der Umgebung zahlreiche Firmen, die sich beispielsweise auf Felssicherungen und auf den Hochwasserschutz spezialisiert hätten. Christian Raab, Generalsekretär der Urner Volkswirtschaftsdirektion: «Ich denke da an Hochwasserschutzmassnahmen, an Lawinensicherungen oder Sicherung von Verkehrswegen.» Erstfeld verfüge über Areale, auf denen sich bestehende Firmen vernetzen könnten. Zudem sollen sich weitere spezialisierte Ingenieur-Büros und Bauunternehmen ansiedeln. Wie viele neue Arbeitsplätze dabei dem Kanton vorschweben, dazu macht er keine Angaben.
Bahnvergangenheit soll bewahrt werden
Trotz des Rückzugs der SBB in den vergangenen Jahren: Ganz loslassen kann und will Erstfeld seine Bahnvergangenheit nicht. Das Depot mit den historischen Gotthard-Lokomotiven soll touristisch besser vermarktet werden.
Ein weiteres Anliegen: Die Lösch- und Unterhaltsequipen für den Gotthard-Basis-Tunnel sollen nicht nur in Biasca, sondern weiterhin auch in Erstfeld stationiert sein, sagt der Urner Landammann Urban Camenzind. «Es wäre ein grosser Verlust, wenn alles ins Tessin abwandern würde, nur weil es etwas einfacher geht oder die Tessiner grösser und stärker sind.» Diesbezüglich stehe man mit der SBB im Austausch. Die SBB ist ebenfalls Teil der Projektgruppe sowie die Südostbahn, die seit einem Jahr die Gotthard-Bergstrecke betreibt.
Ich bin guter Hoffnung, dass wir hier eine Lösung finden.
Mögliche Projekte für die Zukunft von Erstfeld sind also vorhanden. Allerdings: Erstfeld sei finanziell nicht auf Rosen gebettet, sagt die Gemeindepräsidentin Pia Tresch. Der Gemeinderat müsse in den nächsten Jahren entscheiden, welche Ideen umgesetzt werden können: «Wir probieren das. Ich bin guter Hoffnung, dass wir hier eine Lösung finden.»
Auch in anderen Dörfern entlang der Gotthard-Linie hat sich die SBB als Arbeitgeberin in den letzten Jahren immer mehr zurückgezogen – beispielsweise in Göschenen oder in Goldau im Kanton Schwyz. Ob die Projekte in Erstfeld gelingen, wird deshalb auch an diesen Orten mit Interesse verfolgt.