Das Wichtigste in Kürze
- Die SBB-Tochter Elvetino schafft den schikanösen Strafpunktekatalog für die Angestellten ab.
- Das System sei «repressiv und nicht mehr zeitgemäss», räumt Elvetino gegenüber «Kassensturz» ein.
- Mit dem Punktesystem kontrolliert und sanktioniert die Firma die Mitarbeiter seit Jahren.
- Schon kleinste Vergehen führen zu Strafpunkten, bei acht wird den Betroffenen gekündigt.
- Einem Mitarbeiter, der sich vor Gericht wehrte, muss Elvetino mehrere tausend Franken Entschädigung zahlen.
Elvetino, eine 100-prozentige Tochterfirma der SBB, hat im März 2015 zur Disziplinierung seiner Mitarbeitenden ein rigides Strafpunktesystem eingeführt. Vermeintliche Fehler von Angestellten werden mit Strafpunkten sanktioniert.
Ein fehlender Schal oder eine fehlende Krawatte bestraft Elvetino beispielsweise mit einem Strafpunkt – gleich wie ein ungebügeltes Hemd. Gar drei Punkte brummen Vorgesetzte den Speisewagen-Mitarbeitenden auf, wenn diese den Kunden keine Verkaufsquittung abgeben. Mitarbeiter kritisieren, dass sie mit diesem System permanent unter dem Generalverdacht stünden, die Firma zu betrügen.
Mitarbeiter: «Wir werden behandelt wie Kriminelle!»
Knapp 50 «Vergehen» sind auf dem Strafpunktekatalog aufgelistet. Mittels sogenannt «weiteren Verstössen gegen Dienstvorschriften» können Elvetino-Vorgesetzte Speisewagen-Mitarbeiter mit 1 bis 4 Strafpunkte abstrafen – wofür genau, lässt die Formulierung offen.
«Wir werden behandelt wie Kriminelle. Ich muss immer beweisen, dass ich kein Dieb bin.» So oder ähnlich äusserten sich Elvetino-Angestellte bereits vor zwei Jahren gegenüber «Kassensturz» . Die Gewerkschaft SEV bestätigte schon damals, dass beim SBB-Gastrounternehmen ein Klima der Angst herrsche.
Leere Versprechen der SBB?
Der damalige Elvetino-CEO Wolfgang Winter verteidigte gegenüber «Kassensturz» das rigide Disziplinierungssystem. Dieser Strafpunktekatalog sei «wie das Gesetz». Vor dem Gesetz seien alle gleich und Fehler müssten die Mitarbeiter immer selber machen. Im letzten Herbst wurde Winter selber fristlos entlassen – die SBB hat Strafanzeige wegen Vermögensdelikten gegen den damals 62-jährigen eingereicht.
Im Interview mit «Kassensturz» zeigte sich Jeannine Pilloud, die damalige Verwaltungsratspräsidentin von Elvetino und SBB-Personenverkehrschefin, über die Äusserungen der Mitarbeitenden betroffen. «Ich muss diese Hinweise ernst nehmen und anschauen.» Es dürfe nicht sein, dass sich Mitarbeiter durch die Kontrollen schikaniert fühlten. Sie versprach Verbesserungen im Umgang mit dem Personal.
Gewerkschaft: «Nichts hat sich geändert»
«Aus unserer Sicht hat sich die Situation bezüglich Disziplinierungssystem nicht verändert», sagt Regula Pauli der Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV, zwei Jahre später. «Die Mitarbeiter stehen unter einem gewaltigen Druck Umsatz zu erzielen, erhalten aber weder Handlungsspielraum noch das nötige Vertrauen.»
Dies belegen zwei Fälle, von Elvetino-Angelstellten, welche entlassen wurden, nachdem sie acht Strafpunkte kassiert hatten. Im ersten Fall erhielt der langjährige Angestellte Alireza Zatigogani etwa einen Strafpunkt, nachdem er in Hamburg den Zug verpasst hatte. Dies aber völlig unverschuldet, weil die zuständige Bäckerei die Ware für den Zug zu spät lieferte. Obwohl der Elvetino-Mitarbeiter den Vorfall sofort der Zentrale meldete, kassierte er Strafpunkte.
Ali Ashgar Nauroozy, ein zweiter entlassener Mitarbeiter, ist gegen Elvetino vor Arbeitsgericht gegangen. Die Firma hatte ihm gekündigt, weil er sich unter anderem «frech» gegenüber einer Mitarbeiterin der Zentrale geäussert haben soll. Vor Gericht einigte man sich auf einen Vergleich: Elvetino muss dem Mann 7000 Franken Entschädigung zahlen.
Elvetino schafft Strafsystem ab
Zu den einzelnen Fällen wollen sich die SBB und Elvetino nicht äussern. Stefan Wettstein, Geschäftsleitungsmitglied bei Elvetino, gibt gegenüber «Kassensturz» aber zu, dass das Strafpunkte-System nicht mehr «zeitgemäss» sei. «Wir schaffen dieses repressive Strafpunkte-System ab und gehen über zu einem Anreizsystem, bei dem positives Handeln belohnt wird», so Wettstein.
Auf die Frage, warum die SBB nicht früher reagiert habe, erklärt Wettstein: «Wir haben Zeit gebraucht, um mit diesem Strafpunktesystem Erfahrungen zu sammeln.»
Für Alireza Zatigogani und Ali Ashgar Nauroozy kommt diese Einsicht zu spät. Sie haben Pech gehabt. Die SBB-Tochter Elvetino will die Kündigungen auf Grund des unfairen und willkürlichen Strafpunktesystems nicht zurücknehmen.