«Nach zwei Jahren des Versuchs einer Nicht-Umsetzung haben wir heute eine Gesetzesvorlage, die in keinem einzigen Punkt die Initiative umsetzt.» Das stellt SVP-Parteipräsident Albert Rösti als Vertreter der Initianten der Masseneinwanderungs-Initiative zu Beginn fest. Die Zuwanderung könne so nicht gesteuert werden.
Die Schuld dafür gibt der Aargauer SP-Nationalrat Cédric Wermuth «einzig und allein der SVP». Das Parlament sei im Dilemma gewesen, weil diese Initiative so nicht umsetzbar sei. «Ja, dieser Artikel BV 121a ist nicht korrekt umgesetzt. Es ist eine sanfte Umsetzung, aber es geht um die Frage, ob wir die Bilateralen wollen oder nicht.»
Was beim Artikel 121a auch noch dazugehöre, seien die Übergangsbestimmungen, betont FDP-Präsidentin Petra Gössi. Sie sehen vor, dass die Schweiz mit der EU verhandeln müsse, wenn man nach drei Jahren keine Lösung habe und der Bundesrat einseitig eine Lösung einsetzen müsse. «Das Volks hat mindestens sieben Mal Ja zu den Bilateralen gesagt. Darum steht das Parlament im Spannungsverhältnis, die Bilateralen zu erhalten oder den Verfassungsartikel umzusetzen.»
Auch für den Vertreter der Kleinen Kammer, den Solothurner CVP-Ständerat Pirmin Bischof, ist klar, dass der «Nationalrat eine klare Nicht-Umsetzung dieser Initiative beschlossen hat».
Man müsse aber auch sagen, dass der Vorschlag des Bundesrats (Ventilklausel) eine krasse Verletzung der bilateralen Verträge darstelle. «Der Ständerat könnte überlegen, ob man nicht eine Lösung findet, die näher an den Verfassungstext kommt», so Bischof.
Am Expertenpult sagt Bernhard Ehrenzeller, Rechtswissenschaftler an der Universität St. Gallen, dass ein Umsetzen des Verfassungsauftrags 1:1 für das Parlament immer schwierig sei. «Das Parlament hat einen gewissen Spielraum – einmal enger, einmal grosszügiger.»
Europarechtlerin Christa Tobler präzisiert, dass der Inländervorrang rechtlich eigentlich gar keinen «Vorrang» darstellt. Denn die vorgesehene Meldepflicht an die Arbeitsvermittlungsämter (RAV) stelle keine Verpflichtung dar, jemanden aus dem Inland anzustellen, ein Schweizer oder ein ansässiger Ausländer. «Es fehlt eigentlich ein Vorrang-Element. Weil es somit keine Diskriminierung darstellt, wäre die EU sicher nicht unglücklich.»
Ausweg aus dem Dilemma? Nur Entweder – oder?
Der einzige Ausweg wäre nach Ansicht von Ehrenzeller eine Verfassungsänderung. Man könnte beispielsweise die Verhandlungsfrist [aus den Übergangsbestimmungen] entfernen oder die Verfassung weitergehend ändern.
Bischof stellt die Frage, ob es wirklich nur ein Entweder-oder gibt. Er erwartet, dass im Ständerat die Frage gestellt werde, wo denn in der Schweiz das tatsächliche Problem liege: So gab es letztes Jahr in der Schweiz 200‘000 Stellensuchende. Im gleichen Jahr wurden aber auch Arbeitsbewilligungen für 180‘000 EU-Angehörige erteilt. «Um dem Verfassungsartikel näher zu kommen, braucht es griffigere Massnahmen.»
Wo liegt die Schmerzgrenze?
Bei der Diskussion, wo denn die Schmerzgrenze bei der EU liegt, die Bilateralen aufzukündigen, erinnert Rösti daran, dass auch die EU-Länder bei weitem nicht alle eigenen EU-Bestimmungen erfüllten, z.B. Flüchtlingskontingente oder Schuldenbremse. «Wenn wir einseitig Bestimmungen anwenden würden, wie sie der Bundesrat vorgeschlagen hat, dann müsste die EU von sich aus die Bilateralen kündigen. Aber es ist politisch nicht realistisch, dass das alle 28 EU-Länder unterstützen.»
Aus rechtlicher Sicht sei eine Kündigung ein mögliches Szenario, erklärt Tobler. Eine Gefährdung für die bilateralen Verträge bestehe nämlich, man erinnere sich an drei Abkommen, die von der EU nicht verlängert worden sind, nämlich das Forschungsabkommen [Horizon 2020], das Bildungs- und Kulturabkommen.
Beratung im Ständerat
Die Ständeratskommission beginne schon am Dienstag mit der Beratung des Inländervorrangs mit dem Ziel, für die Wintersession bereit zu sein, sagt Bischof. «Und die Diskussion wird vielleicht ein wenig entspannter als im Nationalrat». Es gehe aber sicher auch in Richtung einer Verschärfung der Vorlage.
Droht am Ende gar ein Referendum der SVP, weil mit dem «Inländervorrang light» der Verfassungsartikel nicht umgesetzt wird? «Wenn die Personenfreizügigkeit nicht geritzt werden darf, werden wir nicht zu einer Lösung kommen, zu der die SVP stehen kann», hält Rösti fest. «Ein Referendum ergreift man, wenn ein neues Gesetz einen schlechteren Zustand bringt als der aktuelle. Wenn diese Lösung kommt, macht ein Referendum keinen Sinn.»