Die Zahl an Volksinitiativen nimmt zu. Auch sehr absolut formulierte Initiativen werden vom Volk angenommen, spalten aber das Land. Hat die Mehrheit der Stimmenden immer Recht? Oder sollen Richter mitentscheiden, welche Rechtsprinzipen durchgesetzt werden müssen?
Der Staatsrechtler Andreas Auer stellt fest: «Das Volk in der Schweiz ist nicht souverän. In der Bundesverfasssung steht, dass die Kantone souverän sind.» Das Volk sei das mächtigste, aber gleichzeitig auch ohnmächtigste Organ im Staat. Es könne Kandidaten wählen und Ja oder Nein zu einer Vorlage sagen. Ein Parlament oder eine Regierung könne man auswechseln, das Volk als Organ aber nicht.
Christoph Blocher widerspricht: «Für die Verfassung ist das Volk das oberste Organ zusammen mit den souveränen Kantonen.» Aber alle anderen Staatgewalten stünden unter dem Volkswillen. Das sei auch das Erfolgsrezept der Schweiz.
Für Anita Fetz «braucht es einen ‹zivilisatorischen Mindestboden›, der nicht verhandelbar ist, also Grundrechte, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenrechte und das zwingendes Völkerrecht.» Wenn diese Grundrechte fehlten, dann hätten wir in der Schweiz eine Diktatur der Mehrheit.
Die Verfassungshoheit liegt für Philipp Müller eindeutig beim Volk. Es könnte theoretisch auch die Kantone abschaffen, was aber wegen dem föderalen Gedanken in der Schweiz undenkbar sei.
Am Expertentisch wiederspricht Jo Lang : Es stimme nicht, dass das Volk das Ständemehr abschaffen könnte, denn das wäre eine Verfassungsänderung. Sie wäre nur mit der Mehrheit der Stimmenden und der Stände zu erreichen. Mit dem Ständemehr bestehe hier eine wichtige Relativierung der Volksmacht.
Tatsächlich beruhe die direkte Demokratie in der Schweiz «auf einem Hin und Her zwischen dem Volk und den gewählten Behörden», wie das das Erklärstück (Video) gut zeige, sagt Staatrechtler Auer.
Relativierung durch Völkerrecht?
Der neuste Trend sei der «Weg in die Diktatur» interveniert Blocher: «Dort wo das Volk die Mehrheit beschlossen hat, versucht man überall zu relativieren.» Vor allem seit das Bundesgericht entschieden habe, das Völkerrecht generell über die Verfassung zu stellen. Eine Aussage, die von Auer und Fetz vehement in Abrede gestellt wird.
Zufrieden mit der Umsetzung von Volksinitiativen?
Thomas Minder kann selber als Initiant der Abzocker-Initiative ein Lied davon singen, wie Initiativen umgesetzt werden. Wohl kein Komitee sei mit der Umsetzung jemals inhaltlich wie zeitlich zufrieden gewesen. Im Schnitt dauere es 34 Monate bis zu einem Ausführungsgesetz. Die aktuelle Diskussion sei ja ausgebrochen, weil Initiativen angenommen wurden, «die aber von Bundesbern, dem politische Establishment, nicht gewollt waren».
Müller kritisiert aber auch, dass zunehmend Dinge in die Verfassung geschrieben würden, die sinnvollerweise in Gesetzen stehen sollten, etwa die Minarett-Initiative. Das sei zwar legitim, aber die Hierarchie von Verfassung und Gesetz müsse eingehalten werden.
Minder hält entgegen, dass nicht festgelegt sei, was in der Bundesverfassung stehen dürfe und was nicht. Es gebe die drei Bedingungen für eine Volksinitiative: Einheit der Materie und Form, zwingendes Völkerrecht und dass eine Initiative durchführbar sein müsse.
Ein anderes Problem sei die Wahrnehmung, so Fetz, dass es Erste-Klasse- und Zweite-Klasse-Initiativen gebe, wobei letztere lange auf eine rechtliche Umsetzung warten müssten. Minder stimmt dem zu. «Die Zweitwohnungsinitiative ist ein Paradebeispiel eines Kuhhandel. Hier wurde von SVP und FDP Schindluderei betrieben» bei der Umsetzung in ein Gesetz.
Minders Fazit: «Wir kommen nicht aus diesem Problemkreis heraus, wenn wir nicht die vom Volk angenommenen Initiativen inhaltlich und zeitlich richtig umsetzen.»