Wer kann schon mit Sicherheit sagen, dass ein schwerer Straftäter während seines restlichen Lebens ganz sicher nicht therapierbar ist? Auf diese Problematik hatten forensische Psychiater schon vor der Abstimmung über die Verwahrungsinitiative hingewiesen.
Fachleute sind nicht erstaunt
Marc Graf, Klinikdirektor der Forensisch-Psychiatrischen Klinik in Basel, ist deshalb nicht erstaunt über das Bundesgerichtsurteil im Fall Lucie. «Ich kann gut mit dem Urteil leben», sagt er gegenüber SRF.
Das Bundesgericht nehme die Kritik auf, welche die Fachleute immer wieder vorgebracht haben: Nur in einigen wenigen, «exotisch anmutenden Einzelfällen» sei eine lebenslange Prognose möglich. Graf nennt das Beispiel eines Täters, der bei einem Autounfall schwere Hirnverletzungen erlitten hat und deshalb nicht mehr therapierbar sei.
Prognose im Normalfall für fünf Jahre
Im Normalfall würden Prognosen auf fünf Jahre hinaus erstellt, in ganz seltenen Fällen für bis zu 20 Jahre. Mehr sei nicht möglich, sagt Graf.
Das habe aber «keinerlei Einfluss» auf den heute praktizierten Vollzug von Massnahmen für gefährliche Straftäter: Es seien genügend Möglichkeiten vorhanden, mit der normalen Verwahrung gefährliche Straftäter «hinreichend gesichert unterzubringen.»
Jositsch: «Richtiger Entscheid»
«Das ist ein absolut richtiger Entscheid», sagt SP-Nationalrat Daniel Jositsch zum Urteil des Bundesgerichts. Er betont, dass nur die lebenslängliche Verwahrung aufgehoben worden sei, der Täter aber verwahrt bleibe.
Das Urteil zeige denn auch die Grenzen der Verwahrungsinitiative auf. Täter könnten zwar lebenslänglich verwahrt werden, dies müsse aber regelmässig überprüft werden. Er kommt zum Schluss: «Aus meiner Sicht ist es praktisch unmöglich, eine lebenslange Verwahrung auszusprechen.»
Enttäuschung bei Anita Chaaban
Unverständnis über das Urteil zeigt dagegen Anita Chaaban: «Ich finde es einen Hohn – ich habe null Verständnis für dieses Urteil», sagt sie gegenüber SRF. Chaaban hatte einst praktisch im Alleingang die Verwahrungsinitiative durchgezogen, die 2004 von Volk und Ständen angenommen wurde.
Sie könne nicht verstehen, dass man überall Spitzfindigkeiten suche, damit die Verwahrungsinitiative umgangen werden könne. Sie meint damit das Wort «dauerhaft», welches nun «auseinandergenommen» werde, so Chaaban.
Rickli: «Gesetz ist untauglich»
Wenig Freude an dem Urteil hat auch SVP-Nationalrätin Natalie Rickli. Das Verwahrungsgesetz sei «untauglich», sagt sie und fordert: «Wiederholungstäter gehören automatisch verwahrt.»
Auch müsse die «lebenslängliche» Strafe tatsächlich wieder für den Rest des Lebens gelten. «Es geht um die Sicherheit der Bevölkerung – wir müssen sie schützen vor solchen Wiederholungstätern.»
Ordentliche und lebenslange Verwahrung
Die lebenslange Verwahrung gemäss Verwahrungsinitiative kommt nur zur Anwendung, wenn der Täter unter anderem als «dauerhaft nicht therapierbar» eingestuft wird.
In dem Fall gibt es keine regelmässige Überprüfung über die Gefährlichkeit eines Verurteilten. Geprüft wird nur, wenn es neue wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, dass ein Täter therapierbar sein könnte.
Im Fall Lucie kamen die Gutachter zwar zum Schluss, dass eine Therapie des Täters während mindestens 15 Jahren keinen Erfolg verspricht. Ob dies allerdings für sein ganzes Leben gilt, konnten die Experten nicht einschätzen.
Trotzdem verurteilte das Aargauer Obergericht Lucies Mörder zu einer lebenslangen Verwahrung. Die Richter beurteilten 15 Jahre nicht therapierbar als «dauerhaft» und langfristig.
Verwahrung stets verlängerbar
Neben der lebenslangen Verwahrung nach Verwahrungsinitiative gibt es auch die ordentliche Verwahrung: Dabei wird die Gefährlichkeit des Täters regelmässig überprüft.
Fällt die Gefährlichkeit weg, muss der Täter entlassen werden. Andererseits kann die Verwahrung ein Leben lang immer wieder verlängert werden – wenn die Experten dem Täter keine Ungefährlichkeit attestieren.