Ein Verkehrsflugzeug als Terrorwaffe, das von den Piloten im Sturzflug auf ein Reaktorgebäude gesteuert wird: Ein solches Szenario hält der ehemalige Swissair-Pilot Max Tobler nach «9/11» flugtechnisch durchaus für realistisch. Er flog selber 22 Jahre als Flugkapitän und arbeitet heute als Flugsimulator-Instruktor für Linienpiloten.
«Rein theoretisch und technisch gesehen ist es für einen Berufspiloten einfacher mit einer grossen Passagiermaschine in ein Gebäude hineinzufliegen, als eine Landung mit etwas Seitenwind auf einer kurzen Piste.»
Würde das Reaktorgebäude des Atomkraftwerks Mühleberg dem Aufprall eines grossen Flugzeuges standhalten? Die Kraftwerkbetreiberin BKW Energie AG betont gegenüber «10vor10»:
Die Terroranschläge mit Flugzeugen in den USA am 11. September 2001 lösten auch in der Schweiz Ängste aus. 2003 verfasst darum die damalige Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK), das heutige Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI), einen Bericht. Man untersuchte die «Sicherheitslage der schweizerischen Kernkraftwerke bei einem vorsätzlichen Flugzeugabsturz». Die Schlussfolgerungen in der Stellungnahme der HSK von 2003 sind:
- «Die Kernkraftwerke Gösgen und Leibstadt sind gegen einen Aufprall bei allen untersuchten Geschwindigkeiten so gut geschützt, dass ein Durchstanzen der Reaktorgebäude nicht möglich ist.»
- «die Wahrscheinlichkeit für eine Freisetzung von Radioaktivität aufgrund eines Flugzeugabsturzes [ist] sehr niedrig.»
- «Bei Mühleberg und Beznau kann eine Beschädigung sicherheitstechnischer Einrichtungen innerhalb des Reaktorgebäudes durch eindringende Flugzeugteile nicht ganz ausgeschlossen werden.»
Containment und Notstandssysteme schützen
Seit 2003 fliegen aber grössere Flugzeuge, sagt Pilot Max Tobler: «Deren Massen sind natürlich grösser geworden. Bei einem Airbus A 380 sind allein die Fahrwerke 20 Tonnen schwer. Sie bestehen aus gehärtetem Stahl und teilweise nach vorne gerichtet wie eine Lanze.»
Horst-Michael Prasser ist Professor für Kernenergiesysteme an der ETH Zürich. Seiner Meinung nach kann eine Freisetzung von Radioaktivität durch mehrere Barrieren verhindert werden, selbst wenn ein Flugzeug die Aussenwand durchschlagen würde.
«Dann haben sie eine Beschädigung des Containments. Die Anlagen sind so gebaut, dass sie immer noch die Möglichkeit haben, eine Nachkühlung des Reaktorkerns zu bewirken und den Brennstoff zu schützen», sagt Prasser. Die Brennelementhüllen seien dann die entscheidende Barriere. Wenn die halten, gebe es keine grosse Freisetzung von radioaktiven Stoffen. Dafür gibt es gebunkerte Notstandssysteme, die beim Auftreffen auf das Containment nicht gleichzeitig getroffen werden.
ENSI arbeitet an aktualisiertem Bericht
Alle Schweizer Atomkraftwerkbetreiber wurden von «10vor10» zum Thema Flugzeug-Terrorangriffe angefragt. Alle betonen, dass die gesetzlichen Auflagen betreffend Flugzeugabstürze erfüllt werden.
Das ENSI arbeitet zurzeit an einem aktualisierten Bericht über vorsätzliche Flugzeugabstürze. Die Untersuchungen wurden 2012 eingeleitet. Das ENSI möchte aber erst nach Abschluss des Berichtes an die Öffentlichkeit treten.
Nationalrat Beat Jans (SP/BS) hat dazu im Dezember eine Motion eingereicht. Er fordert, dass Atomkraftwerke alle fünf Jahre ihre Sicherheit gegen Terrorangriffe mit Flugzeuge nachweisen müssen. Der Bundesrat lehnte die Motion ab, auch mit Verweis auf die aktuell laufende Untersuchung des ENSI.
«Wir haben die ältesten Atomkraftwerke der Welt. Es gibt eine Studie, die inzwischen 15 Jahre alt ist», erklärt Jans. Seit drei Jahren habe die Aufsichtsbehörde bereits den Auftrag, das Risiko abzuklären, aber die Studie lasse immer noch auf sich warten.
Pilot Max Tobler sieht keinerlei Schwierigkeiten, Atomkraftwerke als Ziele für Terroranschläge zu orten: Man finde Koordinaten und Fotos der Anlagen im Internet. «Mit Google Map kann jeder selber herausfinden, aus welchem Sektor, mit welchen Hindernishöhen man ein solches Kraftwerk anfliegen könnte.»
Wie gut die Schweizer Atomkraftwerke gegen einen vorsätzlichen Flugzeugabsturz geschützt sind, soll im neuen ENSI-Bericht veröffentlicht werden. Wann dieser erscheint, ist noch unklar.