Man hat Walter Emmisberger die Kindheit gestohlen, die Jugend zerstört. Als Unehelicher geboren, dann Kinderheim, Pflegeeltern, Prügel, Missbrauch, auf einem Bauernhof verdingt: Das sind die Stationen seines kaputten Lebens. «Das Schlimmste waren die Medikamentenversuche», sagt er. Das sei das Traurigste gewesen, das man erleben könne.
Damals, als der elfjährige Walti Pflegekind bei frommen Pfarrleuten war, wollten ihm diese zeigen, wo Gott hockt. Sie wollten den angeblich schwererziehbaren Knaben wieder zu einem guten Menschen machen. Dafür fuhren sie mit ihm in die Psychiatrische Klinik Münsterlingen zur ambulanten Behandlung.
Mit Pillen vollgestopft
Dort gabs Pillen «bis zum Erbrechen», wie Emmisberger sagt. Er sei mit Tabletten vollgestopft worden, wie eine Gans; bis ihm «hundeelend und trümmlig» gewesen sei. Er habe sich jeweils hinlegen müssen. Am kleinen Walti Emmisberger wurden damals auch Medikamente getestet, die später nie auf den Markt gekommen sind, beispielsweise das Antidepressivum Ketotofranil.
Erst Jahrzehnte später erfuhr Walter Emmisberger in seiner Patientenakte von Münsterlingen, wie genau die Versuche abgelaufen waren. Dort steht: «Wir wollen nun einmal versuchen, das Ketotofanil auf drei Mal zwei Tabletten langsam zu steigern, um zu sehen, was so passiert.»
Der Elfjährige «wie weggetreten»
Das war im November 1967. Knapp drei Monate später rapportierte Waltis Pflegemutter, die Frau Pfarrer, in der Klinik Münsterlingen, sie sei ordentlich zufrieden mit dem Knaben, obwohl seine schulischen Leistungen immer noch sehr schwankend seien. Die Psychiater kamen zum Schluss: «Man hat den Eindruck, dass er noch mehr Medikamente nehmen sollte.»
Doch die nochmalige Steigerung der Dosierung ging nicht gut. «Die Schulleistungen nahmen ab, manchmal war ich wie weggetreten», sagt Emmisberger. In den Akten steht dazu: «Wir haben versucht, das Medikament nochmals zu steigern, doch das ist nicht möglich. Der Knabe beginnt so zu zittern, dass er nicht mehr recht schreiben kann – was für die Schule natürlich auch nicht geht.»
Diese Medikamentenversuche hätten bei ihm viel kaputt gemacht, «mein ganzes Wesen», sagt Emmisberger. Denn noch heute sind die Angstzustände, Panikattacken und Albträume da; und sie wollen Emmisberger einfach nicht loslassen.