An einem Montagmorgen im Spätsommer 2006, kurz nach 8 Uhr, beginnt die Operation «High Impact». Vor dem Gefängnis Pavón in einem Aussenbezirk von Guatemala-Stadt fahren Panzer der Armee auf, 3000 mit Sturmgewehren und Tränengasgranaten bewaffnete Soldaten und Polizisten bringen sich in Stellung. Den Angriffsbefehl gibt ein Mann, der wegen seiner stattlichen Körpergrösse und den roten Haaren «El Vikingo» genannt wird, der Wikinger. Sein Name: Erwin Sperisen, schweizerisch-guatemaltekischer Doppelbürger und seit 2004 Chef der Nationalpolizei im zentralamerikanischen Land.
Am Abend spricht Guatemalas Innenminister Carlos Veilmann von einem «chirurgischen Eingriff», einem Erfolg im Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Seit Jahren stand das Gefängnis, das vielmehr Staat im Staat war, unter der Verwaltung einiger der berüchtigsten Verbrecher Guatemalas. Was sich an jenem 25. September hinter den acht Meter hohen Sicherheitszäunen von Pavón jedoch tatsächlich ereignet hat, ist bis heute nicht restlos geklärt.
Erbitterter Widerstand
Sicher ist, dass Armee und Polizei für die Erstürmung mehrere Stunden gebraucht hatten und dabei auf erbitterten Widerstand gestossen sind. Die Gefangenen feuerten mit M-16-Stumgewehren auf die Angreifer, bewarfen sie mit Handgranaten und Molotov-Cocktails, zündeten selbstgebastelte Bomben. Als Pavón fiel, waren sieben Insassen tot. Bei den Männern soll es sich um die «Regierung» des Gefängnisses gehandelt haben, offenbar gab es eine schwarze Liste mit ihren Namen darauf. Überlebende Sträflinge berichteten später, die Männer hätten keinerlei Gegenwehr geleistet und seien regelrecht hingerichtet worden, einige sogar in ihren Betten. Die Exekution angeordnet haben soll Polizeichef Erwin Sperisen.
Man habe eine Büchse der Pandora geöfffnet, sagte Alejandro Giammattei, der guatemaltekische Chef für Haftanstalten. Tatsächlich war Pavón eine bizarre Parallelwelt, die der britische «Guardian» als Mischung aus «Herr der Fliegen» und «Die Sopranos» beschrieb – als ein Reich voller Gewalt und Korruption. Es gab ein Internetcafé, einen Wellnessbereich, Pizzarestaurants, Spielsalons und einen Bücherladen. Die Insassen – Mörder, Kidnapper und Drogenschmuggler mit bis zu 50-jährigen Haftstrafen – konsumierten selbst hergestelltes Kokain, vergnügten sich mit Prostituierten und lebten in luxuriösen Behausungen.
Flucht nach Genf
Das Ende Pavóns wurde in Guatemala denn auch positiv aufgenommen. Zweifel an der offiziellen Version der Erstürmung tat Innenminister Carlos Veilmann ab. Man könne den Gefangenen kein Wort glauben, sagte er, «das sind Kriminelle». Dennoch waren Erwin Sperisens Tage als Polizeichef Guatemalas schon da gezählt. Der Vorwurf, er hätte in Pavón selber den Abzug gedrückt, hielt sich hartnäckig. Nachdem im April 2007 in Guatemala-Stadt drei Abgeordnete des Parlaments umgebracht wurden, trat Sperisen zurück und verliess mit seiner Familie das Land.
Via El Salvador gelangten die Sperisens nach Genf, wo Erwins Vater Eduardo lebt, der Botschafter der Ständigen Vertretung Guatemalas bei der Welthandelsorganisation WTO. Bald nach der Flucht geriet Erwin Sperisen ins Visier mehrerer Nichtregierungsorganisationen. Sie zeigten Sperisen wegen seiner Rolle bei der Erstürmung Pavóns und wegen weiterer Vorfälle an. So soll Sperisen, für den die Unschuldsvermutung gilt, bereits 2005 die Erschiessung dreier zuvor entflohener Häftlinge angeordnet und danach Spuren am Tatort verwischt haben.
Internationaler Haftbefehl
2010 lag dann ebenfalls ein internationaler Haftbefehl vor. Die guatemaltekischen Behörden hatten mithilfe der UNO belastendes Material gegen zahlreiche Vertreter des alten Regimes gesammelt – unter ihnen «El Vikingo», der ehemalige Polizeichef mit dem Schweizer Pass. Am 31. August 2012 wurde Sperisen schliesslich auf dem Parkplatz eines Lebensmittelgeschäfts in Genf verhaftet und seither elfmal vernommen.
Am Donnerstag beginnt nun der Prozess gegen Erwin Sperisen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, in zehn Fällen Morde entweder befohlen, geplant oder selber begangen zu haben. Bei einer Verurteilung drohen ihm mehr als zehn Jahre Haft. Für den Prozess werden knapp dreissig Journalisten aus der Schweiz, Spanien, Argentinien und Guatemala erwartet, berichtet die NZZ. In zwei Wochen sollen 18 Zeugen vernommen werden.
Sperisen will Freispruch
Was der heute 43-Jährige von den Anschuldigungen hält, macht er auf seiner Facebook-Seite publik. Dort heisst es: «Erwin Sperisen – verleumdet von falschen Zeugen!» Via Anwalt liess Sperisen ausrichten, dass er sich auf den Prozess freue und einen Freispruch erwarte. Ein Video werde beweisen, dass die Gefangenen damals bewaffneten Widerstand geleistet und auf die Sicherheitskräfte geschossen hätten.
Hoffnung machen kann sich der dreifache Vater und Harley-Davidson-Fan aufgrund eines Urteils aus Österreich. Dort stand im letzten Jahr Javier Figueroa vor Gericht, der als rechte Hand Sperisens galt. Weil die Richter die Beweise gegen Figueroa für nicht ausreichend beurteilt hatten, wurde er freigesprochen.