Die SVP warnt vor dem Verlust der Selbstbestimmung der Schweiz. So solle die Schweiz damit aufhören, sich allen internationalen Standards sofort anzupassen, fordert die Partei – und zieht mit dem Schlagwort Souveränität in den Wahlkampf.
Doch losgelöst von der Parteipolitik stellt sich die Frage: Wie gross kann der Einfluss der Politiker in Bern noch sein, wenn Gremien wie die EU oder die OECD wichtige Entscheide oft vorspuren? Welcher Spielraum bleibt der nationalen Politik?
Als reiches Land ist es einfacher
Staatsrechtler Andreas Glaser ist optimistisch. Er glaubt, die Schweiz stehe im internationalen Vergleich relativ gut da. «Wenn man einen Souveränitäts-Index machen würde, nähme die Schweiz wohl einen guten Platz ein.» Weil sie nicht Mitglied der EU ist, sei die Schweiz beispielsweise nicht gezwungen, EU-Recht direkt zu übernehmen.
Als reiches Land habe die Schweiz auch mehr Möglichkeiten, Souveränität auszuüben, sagt Glaser. Das Beispiel Griechenland hingegen zeige, wie die Selbstbestimmung bei grossen wirtschaftlichen Problemen schrumpfen könne. Ähnlich äussert sich die Politikprofessorin Silja Häusermann: Die Schweiz sei frei, beispielsweise gegen Empfehlungen der OECD zu verstossen oder die Personenfreizügigkeit mit der EU zu künden. «Die wirtschaftlichen Kosten, die ein Ausscheren mit sich bringt, sind aber gestiegen.»
Nicht zuletzt deshalb findet Glaser: «Die Schweiz ist weniger souverän als früher.» Das gelte aber für alle Länder und habe damit zu tun, dass die Welt heute vernetzter sei. «Entsprechend braucht es mehr Regeln.» So nehme der Druck auf die Souveränität laufend zu, sagt Glaser. Gerade wenn undurchsichtige Gremien wie die OECD oder die G20 Entscheide fällten, die für alle verbindlich würden, sei das aber problematisch. «Da wird jahrelang verhandelt und am Ende kommt etwas heraus, an dem man nichts mehr ändern kann. Das führt zu einem Demokratieabbau.»
Die Hälfte aller Gesetze hat EU-Bezug
Europarechtsprofessor Thomas Cottier stellt hingegen fest, dass die Schweiz im Verhältnis mit der EU unter Zugzwang kommt – gerade weil sie souverän bleiben möchte. «Die Schweiz verliert an Selbstbestimmung, wenn sie nicht mitreden kann bei Entscheiden, die sie betreffen.»
Eine Studie, welche für die Jahre 2004 bis 2007 den Einfluss von europäischem Recht auf die Schweizer Gesetzgebung untersuchte, kam zu folgendem Schluss: Rund die Hälfte der neu formulierten Gesetze in diesen Jahren hatte einen Europa-Bezug. Ein Drittel davon übernahm direkt das existierende EU-Recht; bei den restlichen Vorlagen hatte das europäische Recht einen gewissen Einfluss. «Das EU-Recht beeinflusst das Schweizer Recht stark», kommentiert Cottier, «und sein Einfluss dehnt sich laufend aus.»
Früher ging es der Schweiz bei der Übernahme von EU-Recht vor allem darum, keine unnötigen Handelshemmnisse aufzustellen. Inzwischen passe die Schweiz ihre Gesetze in vielen Bereichen an das europäische Recht an – «nicht nur mehr in der Wirtschaftspolitik, sondern auch bei der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit.»
«Souveränität ist ein leerer Begriff»
Europa-Experte Dieter Freiburghaus kann darin kein Problem erkennen. Er glaubt, dass die Souveränität der einzelnen Länder ohnehin nur noch ein Mythos ist. «Die Souveränität ist zu einem leeren Begriff geworden.» Überall dort, wo es um wichtige Themen gehe, könne die Schweiz schon lange nicht mehr selbständig entscheiden. «Ob es nun um Bildung geht – Stichwort Bologna-Reform – , um die Verfolgung von Verbrechern, das Verteilen von Flüchtlingen oder die Anerkennung von ausländischen Diplomen – die Schweiz hat praktisch keinen Spielraum mehr.»
Die Verflechtung der Welt sei so gross, «dass die Souveränität ein Auslaufmodell ist». Nur bei unwichtigen Themen könne die Schweiz noch selber entscheiden – und selbst dort siege am Ende die wirtschaftliche Vernunft. «Die Schweiz ist eine Wirtschaftsnation. Die Schweizer sind reich und wollen reicher werden», sagt Freiburghaus. Was immer diesem Ziel diene, werde gemacht.
Kein Problem?
Aus dieser Perspektive sei der Verlust der Souveränität auch nicht weiter schlimm, findet der Europa-Experte. Das Land sei ohnehin in praktisch allen Bereichen darauf angewiesen, eine gemeinsame Lösung zu finden. «Die Angleichung an internationale Normen ist meist im Interesse der Schweiz.»