«Das Flugzeug kommt zurück! Hört ihr das?», flüstert die junge Frau. Ihre Worte werden begleitet von Triebwerksgeräuschen, im Hintergrund ist eine Explosion zu hören. «Das ist mein Dorf!» Am Ende überschlägt sich ihre Stimme. Es ist eine Sprachnachricht, aufgenommen am Samstag vor zwei Wochen. Ton- und Wortfetzen, wie die 22-jährige Frau sie immer wieder über Whatsapp versendet, als Lebenszeichen aus dem Krieg.
Die junge Frau stammt aus Süddeutschland – nennen wir sie Johanna. Der Krieg, in den sie mit ihrem 21-jährigen Ehemann Onur gezogen ist, wird in Syrien ausgetragen, in der Gegend von Idlib, 68 Kilometer südwestlich von Aleppo. Seit Wochen ringen dschihadistische Kämpfer mit den Truppen des syrischen Machthabers Baschar al-Assad. Angeführt wird der Kampf von der Rebellengruppe Jabhat al-Nusra. Die Nusra-Front gilt als syrische Version der irakischen Terrororganisation Al Kaida.
Journalisten der deutschen Tageszeitung «Stuttgarter Nachrichten» und des SRF haben über Monate recherchiert, um den Weg von Johanna und Onur nachzuzeichnen. Sie haben vertrauliche Dokumente studiert und Gespräche mit Personen aus dem engeren Umfeld geführt. Daraus ist die Geschichte eines jungen Paares entstanden, das aus einer Stadt am Bodensee aufbricht, um sich in die Wirren des syrischen Bürgerkriegs zu stürzen. Ein Paar, das alles hinter sich lässt, ohne zu wissen, was kommt. Es ist eine Geschichte von der Suche nach Liebe und nach Halt.
Protokoll einer Entfremdung
Im Herbst 2014 packt Johanna in ihrer gemeinsamen Wohnung die Koffer, um Onur in die Türkei nachzureisen. Sie haben gerade erst geheiratet und erwarten ihr erstes Kind – es soll eine Tochter werden. Bis heute stehen ihre beiden Namen auf dem Klingelschild des Wohnhauses mit blassgrünem Anstrich, gelegen in der Stadt Arbon auf der Schweizer Seite des Bodensees im Kanton Thurgau. Doch seit Johannas Abreise ist die Wohnung verwaist. Der Strom wurde mittlerweile abgestellt. Wegen ausstehender Mietzinszahlungen hat der Vermieter ein Verfahren beim zuständigen Bezirksgericht angestrengt. An der Wohnungstür: Spuren eines Polizeisiegels. Johanna und Onur haben ihr Leben in der Schweiz hinter sich gelassen – für ein neues, ein anderes Leben in Syrien.
«Einen gefallenen Engel» nennt Johannas Vater seine älteste Tochter. Mit den Eltern und ihrer jüngeren Schwester Lea wächst Johanna in Süddeutschland auf. Eine heile Welt scheint es, die aus den Fugen gerät, als die Eltern sich trennen. Einen Zufluchtsort bietet Johanna zuerst eine christliche Glaubensgemeinschaft, dann besucht sie die Zeugen Jehovas. Die Sinnsuche habe sie mit 18, 19 Jahren zum Islam geführt, sagt ihre Mutter. Später im Sommer 2013 findet sich eine Spur von Johanna im Internet. Auf Facebook kommentiert sie 13 Bilder der Organisation «Lies! – Die wahre Religion», gegründet von dem Salafi-Prediger Ibrahim Abou-Nagie. Er gilt als schillernde Figur in der deutschsprachigen salafistischen Szene.
An einem Samstag im Sommer 2013, während der «Street-da‘wa», einer Verteilaktion von Koranen, konvertiert Johanna in der Stuttgarter Fussgängerzone vor der Kulisse eines haushohen Säulengangs zum Islam. «(...) ich habe gestern den Islam angenommen Herz (...) Ich weiss nicht, was ich sagen soll, so glücklich bin ich Herz (...).» Der Eintrag auf Facebook ist mittlerweile gelöscht.
Die Wege von Johanna und Onur kreuzen sich erstmals im süddeutschen Raum. Keinesfalls zufällig. Es handelt sich um eine arrangierte Liebe. Wohl über eine Heiratsvermittlung lernen die beiden sich kennen.
Doch eine Sache verbindet sie bereits: der Verein «Lies! – Die wahre Religion», dem sie sich beide zugehörig fühlen.
Onur lebt im engen Umfeld seiner Familie in Arbon. Er findet eine Anstellung als Logistik-Fachmann in einem grossen Unternehmen vor Ort. Die Samstage verbringt er auf dem Fussballplatz, zunächst als Spieler, dann als Schiedsrichter. Er sei «das Gegenteil eines Salafisten» gewesen, sagt ein Verwandter: «Autos, Frauen, Alkohol. Der ganze Scheiss.»
Ebenfalls im Sommer 2013 nimmt Onur Kontakt zu «Lies!» auf: «Ich lebe in der Schweiz, die da‘wa, die hier herrscht ist sehr gering (...). (...) Ich möchte Brüder zusammensammeln, damit wir wie in Deutschland mehrere Infostände aufbauen können. (...).» Gemeinsam mit seinen Glaubensbrüdern verteilt er Korane in Schweizer Innenstädten.
Auch bei der Organisation «Helfen in Not» arbeitet er mit, hält bis heute aus Syrien über Facebook Kontakt zu Mitarbeitern des Vereins. Der Verein mit karitativ klingendem Namen wird in Deutschland seit Herbst 2013 vom nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz beobachtet. In einer Ortschaft im Kanton Zürich besucht Onur in den Räumen eines Moscheevereins einen Vortrag des Imams Selman Ramadani. Ramadani pflegt Kontakte zur deutschen Salafisten-Szene, auch er beteiligt sich an Koranverteilaktionen.
Zur gleichen Zeit im Sommer 2013: Johanna bittet ihre Mutter, sie in ihre Moschee zu fahren. Im Stuttgarter Stadtteil Botnang setzt die Mutter sie vor einem grauen Betonklotz ab. Hier in den Räumen eines Moscheevereins heiraten Johanna und Onur. Johannas Mutter erfährt davon erst, als das junge Ehepaar sie wenige Stunden später besucht. Johanna trägt jetzt einen Gesichtsschleier, die Niqab. «Ihren Kokon», wie die Mutter es nennt.
Für Johanna scheint sich ihre Sehnsucht nach einer eigenen Familie mit Onur zu erfüllen. Vater, Mutter, Kind. Sie folgt ihrem Mann in die Schweiz. Johanna und Onur lassen sich standesamtlich trauen. Mit Unterstützung von Onurs Familie richten sie sich ihre Wohnung ein, möchten heimisch in Arbon werden.
Dann nutzt Onur zum ersten Mal in sozialen Netzwerken seinen mutmasslichen Kampfnamen: Muhammad Abdulfattah al-Almani. Seine Arbeitsstelle hat er da schon aufgegeben. Samstags steht er jetzt öfter in Fussgängerzonen, um Korane von «Lies!» zu verteilen. Auf dem Fussballplatz lässt er sich kaum noch blicken. Er ist jetzt oft bis spät in die Nacht mit seinen Glaubensbrüdern unterwegs. Zuhause wird aus Zärtlichkeit Gewalt, aus trauter Zweisamkeit Einsamkeit. «Er schlug sie jeden Tag», erzählt Johannas Schwester Lea. Und das, obwohl Johanna zu dem Zeitpunkt schwanger ist. Die Nachbarn berichten von Streit, Handgreiflichkeiten, «einem Riesengeschrei». Und plötzlich ist das junge Paar verschwunden.
«Der Dschihad ist Pflicht!»
Recherchen der «Rundschau» und SRF-Data zeigen: Onur reiste bereits im Spätsommer 2014 auf dem Landweg aus der Schweiz über Italien und Albanien nach Syrien. Nicht dabei: seine Ehefrau.
Zurück in der Schweiz bleibt zunächst Johanna. Sie wählt eine andere Route: Von Zürich aus reist sie Onur einige Zeit später hinterher. Die genauen Umstände ihrer Reise bleiben jedoch unklar. Vor dem Wiedersehen mit ihrem Mann beschleicht Johanna aber wohl ein ungutes Gefühl. Sie schreibt Lea: «Wenn ich Dir unser Code-Wort schreibe, dann bedeutet das, er hält mich fest und lässt mich nicht gehen.»
Johanna sendet ein neuerliches Lebenszeichen an Lea: Sie sei nun in Syrien, nur für eine Woche. Sie komme wieder. Doch Onur lässt sie nicht.
«Ich kann nicht mehr.»
«Ich hasse es hier.»
«Warum lässt er dich nicht gehen?» «Er will das Baby.»
«Stört dich die Neue nicht?» «Nein, sie ist voll cool.»
«Wir vermissen dich.» «Ich liebe dich.»
Mitte Februar 2015 überschlagen sich die Ereignisse. Kurz vor dem Geburtstermin schreibt Johanna ihrer Schwester: «Ich ertrage es hier nicht mehr, ich will hier weg.»
Der Innenminister des Bundeslands Baden-Württemberg, Reinhold Gall, bestätigt, dass die deutschen Behörden in dem Fall ermitteln: «Wegen der Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat, wegen Menschenraub und wegen Freiheitsberaubung.» Und Bundesanwalt Michael Lauber bestätigt, dass die Bundesanwaltschaft in dem Fall von Johanna und Onur aktiv ist: «Wir ermitteln in diesem Fall, weil wir den Mann verdächtigen, nach Syrien gereist zu sein, um sich dort einer terroristischen Organisation anzuschliessen. Dieser Fall ist für das Phänomen Dschihadreisen sicherlich exemplarisch.»
Onurs Vater möchte gegenüber Journalisten nicht über seinen Sohn und Johanna sprechen. Auch Onurs Mutter möchte nicht sprechen. Vielleicht, weil sie auf Facebook seine Posts, seine Bilder jeden Tag verfolgen kann: «Der Dschihad ist Pflicht!», gebrüllte Koransuren, Pistolen und Maschinengewehre, ein zerstörter syrischer Hubschrauber am Flugplatz von Taftanaz, wenige Kilometer nordöstlich von Idlib. Dann berichten Verwandte am Telefon, dass Onur bloss helfen wolle, Hilfsgüter in Syrien verteile – und jetzt selbst festsitze. Onur sei Opfer einer «Gehirnwäsche» radikaler Prediger.
Fast jede Woche treffen neue Hilferufe von Johanna über Whatsapp bei ihren Eltern in Deutschland ein. Sie will nach Hause, schreibt sie, sie halte es nicht länger aus. Ihre Familie fühlt sich ohnmächtig, wissen nicht, was sie tun sollen. Am vergangenen Montag dann endlich eine freudige Nachricht: Die Tochter von Johanna und Onur ist geboren. Es gehe ihr gut, vermeldet Johanna. Im Krieg.
Mitarbeit: Julian Schmidli, Shamiran Stefanos, Samira Zingaro.
(«Rundschau», 04.03., 20.55 Uhr)