In Deutschland sind bei einer landesweiten Grossrazzia Dutzende Wohnungen mutmasslicher Salafisten durchsucht worden. Die Behörden werfen den Anhängern der Aktion «Der wahre Islam» vor, den bewaffneten Dschihad sowie Terroranschläge zu verherrlichen. Die Bewegung ist für die Lies!»-Aktion verantwortlich, die auf der Strasse Korane verteilt. Es gibt auch Verbindungen in die Schweiz, wie «Rundschau»-Journalist Georg Häsler weiss.
SRF: Steckt hinter der «Lies!»-Aktion in der Schweiz die gleiche Organisation wie in Deutschland?
Georg Häsler: Bei diesen salafistischen Vereinigungen ist es schwierig, von «Organisationen» zu sprechen. Es sind eher Treffen unter Gleichgesinnten. Tatsache ist aber, dass die führenden Köpfe der «Lies!»-Aktion in der Schweiz aufs engste mit denjenigen Leuten verbunden sind, bei denen in Deutschland nun Razzien durchgeführt wurden. Alle haben Kontakte zu Ibrahim Abou-Nagie, einem führenden Salafisten in Deutschland, und seinen Adlaten. Die in der Schweiz verteilten Korane und die T-Shirts, welche dabei getragen werden, stammen alle aus derselben Quelle, die nun in Deutschland verboten worden ist.
Viele Beteiligte sind junge Menschen auf der Suche nach der eigenen Identität. Sie sind so in das Fahrwasser der Sekte geraten.
Die deutschen Behörden bezeichnen die «Lies!»-Aktion als Mobilisierungsnetzwerk für den IS. Deckt sich das mit Ihren Recherchen?
Diese Aussage ist durchaus zutreffend. Es wird zwar nicht aktiv für den IS geworben und es gibt auch keine Rekrutierungsbüros. Das ganze läuft subtiler. Trotzdem: Ich habe bei meinen Recherchen festgestellt, dass sämtliche Dschihadreisenden aus der Deutschschweiz mit «Lies!» in Kontakt oder sogar Teil der Aktion waren. Alle wurden dort ideologisch so vorbereitet, dass sie den Schritt in den gewaltsamen Dschihad gemacht haben.
Was für Menschen organisieren die Koranverteilungen in der Schweiz?
Es ist eine heterogene Gruppe von jungen Menschen, viele von ihnen sind Konvertiten, die zu diesem Zweig des Islams übergetreten sind. Es ist wichtig zu betonen, dass dieser Salafismus nur sehr wenig mit der gelebten Form des Islams in Europa zu tun hat. In den Salafisten-Gruppen machen auch die Nachkommen von Migranten mit, die aus dem Kosovo oder aus Bosnien stammen und glauben, im Salafismus einen Weg zu einer eigenen Identität gefunden zu haben. Viele der Beteiligten sind junge Menschen auf der Suche nach der eigenen Identität. So sind sie in das Fahrwasser der Sekte geraten. Sie saugen das ideologische Salafisten-Gedankengut auf und vertreten die entsprechende Ideologie dann auch vehement.
Die Exponenten der Salafisten segeln hart an der Legalität – es ist sehr schwierig, ihnen eine Straftat nachzuweisen.
Welche Verbindungen bestehen in der Schweiz zwischen der «Lies!»-Aktion und anderen Organisationen?
Das ist ein heikles Thema, weil sich sehr wenig nachweisen lässt. Sicher ist: Es gibt personelle Verbindungen zum umstrittenen Islamischen Zentralrat IZRS. Organisatorisch sind die beiden Bewegungen aber nicht verbunden. Es ist ein Merkmal dieser Szene, dass immer hart an der Grenze zur Illegalität gearbeitet wird. Ich habe auch immer wieder festgestellt, dass sehr viel vernebelt wird, was es einem fast verunmöglicht, harte Fakten zu recherchieren und zu präsentieren.
Deutschland geht nun gegen die «Lies!»-Aktion vor. Ist das auch in der Schweiz denkbar?
Laut meinen Informationen ist von Behördenseite unmittelbar nichts Derartiges geplant. Allerdings ist die Schweiz auch ganz anders aufgestellt als Deutschland. Dort werden die kollektiven Grundwerte und das Grundgesetz als gemeinsame Werte viel höher gewichtet als hier in der Schweiz, wo die individuellen Grundrechte stärker betont werden. Entsprechend besteht in der Schweiz eine höhere Hemmschwelle, gegen solche Aktionen offensiv vorzugehen. Wenn die Schweizer Behörden aber Anhaltspunkte erhalten, dass strafrechtlich relevante Taten begangen werden, greifen auch sie ein. So ist derzeit ein führendes Mitglied der Winterthurer «Lies!»-Aktion in Untersuchungshaft. Weil die Exponenten der Salafisten aber hart an der Illegalität segeln, ist es sehr schwierig, ihnen eine Straftat nachzuweisen.
Das Interview führte Susanne Stöckl.