Wenn der elfjährige Harley Bezerra aufs Velo stieg, dann hatte es geknallt zu Hause. Dann hatte der Stiefvater wieder die Mutter geschlagen. Seine Angst, seine Hilflosigkeit, seine Wut liess Harley Bezerra beim Velofahren raus. Tritt für Tritt. «Statt in die Schule zu gehen, habe ich am Morgen mein Velo genommen und bin durch Luzern gefahren. So habe ich meine eigene Welt gehabt», erinnert sich Bezerra an diese Zeit.
Seine Welt, seine Flucht aus dem Zuhause, das keines war, wie es sein sollte. Harley war mit seiner Schwester aus Brasilien in die Schweiz gekommen zur Mutter, die sich in einen Schweizer verliebt hatte. Aber die Liebe wurde bald von Gewalt erstickt. Der Stiefvater verunfallte, wurde zum IV-Fall, begann zu trinken und liess seinen Frust mit den Fäusten an der Mutter aus. Diese schloss die Kinder zu deren Schutz in ihrem Zimmer ein. «Als Elfjähriger kann man da nicht viel machen. Man konnte nur im Zimmer warten bis endlich die Polizei kommt», sagt Bezerra.
Verbesserung gegenüber den Neunzigern
Die Polizei kam oft, aber damals in den Neunzigerjahren hatte das für Täter kaum Konsequenzen. Heute ist das anders: Täter werden von der Polizei temporär aus der Wohnung gewiesen, um die Situation zu beruhigen. Statt der Vormundschaftsbehörden klärt heute die KESB, die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde, ab, was betroffene Kinder brauchen.
«Die Polizei achtet auch noch mehr auf die Kinder. Es wird geschaut, dass eine Fernhaltung auch wegen der Kinder ausgesprochen wird. Es gibt viele Stellen und Organisationen, die sich jetzt um das Thema kümmern», sagt Judith Hanhart, die im Kanton Bern die Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt leitet.
Bevölkerung sollte sensibilisiert werden
Aber für Hanhart muss die Bevölkerung noch mehr sensibilisiert werden. Die Kantone würden da an ihre Grenzen stossen. Sie wünsche sich, dass der Bund eine nationale Kampagne machen würde. Beim Bund winkt man aber ab. Dafür fehle das Geld, heisst es beim Eidgenössischen Büro für Gleichstellung von Frau und Mann. Im Vordergrund stehe nicht die Sensibilisierung der Bevölkerung. Wichtig sei, dass den Behörden klar sei, wie viele Kinder von häuslicher Gewalt betroffen seien, sagt Sylvie Durrer, Direktorin des Büros für Gleichstellung: «Wir wissen heutzutage, dass 27‘000 Kinder jedes Jahr von häuslicher Gewalt betroffen sind.»
Motion für besseren Kinderschutz eingereicht
Wichtig sei ebenso die Zusammenarbeit der Ämter beim Kinderschutz. Da müsse das eine wissen, was das andere mache. Auch die Politik ist aktiv. Jüngstes Beispiel: Mitte September hat die CVP-Nationalrätin Viola Amherd eine Motion eingereicht, damit Gewaltspiralen in Familien gestoppt werden. Die Motion verlangt, dass die Justiz Verfahren nur noch bei Ersttätern einstellen kann. Wer zum zweiten Mal zuschlage, müsse definitiv vor Gericht, sagt Amherd: «Ich bin sehr positiv gestimmt, dass wir diese Motion durchbringen. Es besteht ganz klar eine Notwendigkeit, hier tätig zu werden.»
Kinder, die häusliche Gewalt erleben, werden oft selber aggressiv und fallen deswegen in der Schule auf. Bei Harley Bezerra war es nicht anders. Zweimal musste er die Schule wechseln, weil die Lehrer mit ihm überfordert waren. «Da hat sicher auch der Neid gegenüber anderen Kindern, denen es gut ging, mitgespielt. Wenn man sich nicht mit Worten ausdrücken kann, wehrt man sich halt mit den Händen», erinnert sich Bezerra.
Letztlich setzte seine Mutter der häuslichen Gewalt ein Ende. Sie zog mit ihren Kindern ins Luzerner Frauenhaus. Bezerra wurde psychologisch betreut, fand den Tritt und zur Ruhe. Keine Verhaltensauffälligkeit mehr. Dagegen gute Noten, eine Berufsaus- und Weiterbildung und eine eigene Familie mit Kindern.