Der Wildhüter Ruedi Zbinden wusste jeweils sofort Bescheid, wenn nachts sein Telefon klingelte: ein Wildunfall. Ein Auto oder ein Zug hatte ein Reh erwischt.
Passieren konnte es überall und jederzeit. Wie zum Beispiel an dieser Ausfallstrasse in Bern. «Das ist so eine spezielle Strecke. Hier gibt es im Jahr 15 bis 20 Kollisionen zwischen Fahrzeugen und Rehwild», sagt Zbinden.
40 bis 60 Unfall-Rehe jährlich verkauft
Über 1800 Mal kollidierte allein letztes Jahr im Kanton Bern ein Auto mit einem Reh. Bis zu drei Mal pro Nacht musste Wildhüter Zbinden ausrücken. Er hat jeweils festgestellt, ob er das Tier noch verkaufen konnte. Zbindens Faustregel dabei war: «Wenn ich es essen würde, hab ich das Fleisch verkauft. Wenn ich es nicht essen würde, hab ich es entsorgt.»
Das Fleisch von 40 bis 60 Unfallrehen hat Zbinden pro Jahr verkauft, das Kilo für 13 Franken. Der Erlös floss in die Kantonskasse. Abnehmer waren Wirte, Metzgereien und Kollegen. «Es war etwas Spezielles. Biologisches Fleisch aus der Region. Es war willkommenes Fleisch», sagt der Wildhüter.
Von nun an: verbrennen
Doch nun ist Schluss: Seit Anfang August gibt es keine Unfall-Schnitzel mehr von Zbinden und seinen Kollegen. Denn neu gilt: Jedes Unfallwild im Kanton Bern landet in der Tierkadaver-Entsorgungsstelle – und wird dort verbrannt.
Seither schlafen die Wildhüter ruhiger in der Nacht. Denn: Fährt ein Autofahrer ein Reh an, kommen nun nicht die Wildhüter, sondern die Polizei. Das entlastet sie und vor allem die Kantonskasse. Der bernische Jagdinspektor Peter Juesy erklärt: Rund 5000 Überstunden hätten seine Wildhüter jedes Jahr mit Nachteinsätzen angehäuft.
«Wir haben Einnahmen von 40‘000 bis 50‘000 Franken für das Fallwild im Jahr. Wenn ich das ins Verhältnis zu den Überstunden setze, muss ich sagen: Es ist ein wichtiger Grund, es nicht mehr zu machen», sagt Juesy.
Der Metzger ärgert sich
Bernhard Schaufelberger ist Dorfmetzger im bernischen Seedorf. Er ärgert sich. Der Kanton spare am falschen Ort. «Mein Herz tut weh, dass man das Fleisch einfach wegschmeisst. Ich verstehe nicht, dass man ein essbares Tier mit Top-Fleisch wegschmeisst.»
Schaufelberger tue sein Herz weh – gerade wenn man wisse, wie gefragt das einheimische Wild sei. Dieses Fleisch sei nämlich nicht schlechter als Jagdwild.
«Das gibt’s auch auf der Jagd, dass jemand einen schlechten Schuss abgegeben hat und der Pansen noch offen ist. Dann wird eine hygienische Sauerei veranstaltet.» Es sei schlimmer, ein solches Tier zu verkaufen als ein Unfalltier. Trotzdem: Im Kanton Bern darf das Unfallwild nicht mehr verkauft werden.
Andere Praxis in Graubünden
In Graubünden ist das anders. Georg Brosi ist dort Jagdinspektor. Er sagt: Man soll gesundes Augenmass anwenden. «Aus fleischhygienischen Ansprüchen darf man verwertbare Tierteile durchaus verwerten.» Man solle diese aber einer genauen Fleischkontrolle unterziehen. Und das Fleisch müsse deklariert werden.
In Bern hat sich Wildhüter Ruedi Zbinden mit der neuen Weisung abgefunden: «Klar ist es biologisches Fleisch. Aber wenn die Gesetzeslage so ist, hält man sich als Profi nicht damit auf.»
Das Reh liegt im durchsichtigen Plastiksack in seinem Kofferraum. Zbinden bringt es nun in die Sammelstelle. Nach dem Zusammenstoss mit einem Zug hätte es da ohnehin nichts mehr zu verwerten gegeben.