Dass die italienische 'Ndrangheta nicht nur in Finanzzentren wie Lugano, Zürich oder Genf tätig ist, überrascht Paolo Bernasconi nicht. Der ehemalige Tessiner Staatsanwalt ist ein Kenner der Mafia. «Pass auf, nach den Mafiageldern werden auch die Mafia-Delinquenten in die Schweiz kommen!», erinnert sich Bernasconi an die Worte des inzwischen ermordeten italienischen Mafiajägers und Staatsanwalts Giovanni Falcone.
Im Fall von Frauenfeld sind sie schon seit 40 Jahren da. Damit rühmen sich die Mafiosi im Video, das Schweizer Ermittler gedreht haben. Sie organisieren den Drogenhandel, sie erpressen.
Aber obwohl jetzt bestätigt ist, dass die 'Ndrangheta in Frauenfeld eine Zelle hat und auch regelmässig Waffen nach Italien geliefert wurden, dürfe man nicht glauben, die italienische Mafia sei die gefährlichste in der Schweiz, sagt Bernasconi.
Enge Verbindungen der organisierten Kriminalität
Das sagen auch andere Experten wie Stephanie Oesch, die sich seit mehreren Jahren mit der Mafia in der Schweiz auseinandersetzt. Die organisierte Kriminalität aus Westafrika, aus dem Balkan und der ehemaligen Sowjetunion werde in der Schweiz unterschätzt.
Diese Kulturen seien der Schweiz noch weniger vertraut, und vor allem funktioniere die Zusammenarbeit mit den dortigen Strafverfolgungsbehörden nur schlecht oder gar nicht. Laut Oesch sind insbesondere die zahlreichen Mafia-Gruppen aus der ehemaligen Sowjetunion sehr einflussreich: «Sie unterhalten Kontakte zur Camorra und zur 'Ndrangheta. Sie sind in ihren Heimatländern mit der politischen Elite stark vernetzt und geniessen mitunter Schutz vor Strafverfolgung.»
Nicht nur die «böse Mafia» beteiligt
Auch der deutsche Mafia-Experte und Publizist Jürgen Roth stützt diesen Befund. Keine andere Gruppe der organisierten Kriminalität sei so stark mit der Schweizer Finanzstruktur und Gesellschaft verbunden wie die russische.
Aber egal ob Russen, Albaner oder Italiener – ohne Schweizer Beteiligung funktioniere die organisierte Kriminalität in der Schweiz nicht, sagt Roth und warnt vor einer vorschnellen Aufteilung in böse Mafia und brave Schweizer Staatsbürger: «Die Mafia bezieht ihre Macht durch Partnerschaft mit ganz legalen Geschäftsunternehmen.»
Bernasconi: «Selbstmörderische Naivität»
Einig sind sich alle drei Experten: Die Schweiz sei für die Mafia attraktiv, weil die Gesetze zu wenig griffig seien. So sei es in der Schweiz nur sehr schwer möglich, jemandem die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung nachzuweisen. Personen, denen das Telefon abgehört wird, müssen im Nachhinein darüber informiert werden.
Damit aber würden alle Beteiligten gewarnt, kritisiert der ehemalige Staatsanwalt Bernasconi und ergänzt: «Es ist eine selbstmörderische Naivität, kein besonderes Kapitel bei den Strafverfahren gegen kriminelle Organisationen vorzusehen.»
Auch die Geschäftsprüfungskommission des Ständerates hat das Problem erkannt, wie die «Neue Zürcher Zeitung» heute schreibt. Die Parlamentarier wollen den entsprechenden Strafartikel nun revidieren.
(brut; fref)