Im Kanton Tessin kommen 9300 Arbeitnehmer in den Genuss eines sogenannten Normalarbeitsvertrages und eines gesetzlichen Mindestlohns von 3000 Franken. Gesetzliche Mindestlöhne kannten im Tessin bisher Pneuhändler, Schönheitssalons und Callcenter. Ab dem 1. April erhalten nun auch Angestellte im Detailhandel, in Computer- und Elektrogeräte-Fabriken einen Mindestlohn.
Teil der flankierenden Massnahmen
Die Tessiner Staatsrätin Laura Sadis (FDP) begründet diesen Schritt im Radio der italienischsprachigen Schweiz: «Wenn wiederholte und schwere Missbräuche festgestellt werden, wenn also Lohndumping vorliegt, dann muss der Kanton eingreifen und den Arbeitnehmern ein würdiges Einkommen garantieren.» Das ist ein Teil der flankierenden Massnahmen bei den bilateralen Verträgen, denn: Dort, wo Lohnmissbräuche vorhanden sind und wo Gesamtarbeitsverträge fehlen, müssen Kantone oder der Bund Normalarbeitsverträge verfügen.
«Es gibt eine exponentielle Zunahme von flexiblen und auch prekären Arbeitsverhältnissen», sagt Meinrado Robbiani von der christlichen Gewerkschaft OCST. Das sei eine Folge des freien Personenverkehrs mit mehr Temporärarbeitern aus dem Ausland und mehr Angestellten aus dem Ausland bei Kurzeinsätzen in der Schweiz.
Warnung vor politischen Folgen
Jeder fünfte Arbeitnehmer im Tessin verdient weniger als 4000 Franken im Monat und ist damit ein Tieflohnbezüger. Im Landesdurchschnitt sind es nur halb so viele. 5000 von insgesamt 26'000 Arbeitern in der Industrie würden weniger als 3000 Franken im Monat verdienen, sagt Stefano Modenini von der Industriellenvereinigung AITI. Praktisch alle Tieflohnbezüger seien Grenzgänger. «Auch der neue Mindestlohn reicht nicht für Einheimische.» Modenini hat einen Rekurs am Bundesgericht angekündigt.
Unia-Co-Präsident Renzo Ambrosetti warnt vor den politischen Folgen: «Das Lohndumping belastet die Öffnung der Schweiz zu EU Europa. Wird das Lohndumping nicht gestoppt, dann wird der freie Personenverkehr bei einer Volksabstimmung scheitern.»
Am 1. Juni wird Kroatien in die EU aufgenommen. Gut möglich, dass die entsprechende Ausweitung der Personenfreizügigkeit an der Urne entschieden wird.