Die Frage klingt absurd: «Wissen Sie, in welchem Monat Sie geboren sind?» Zivilstandsbeamtin Karin Wolfer sieht Semhar Kahsay aus Eritrea an. Die 24-Jährige schüttelt den Kopf. Wolfer blättert in den Akten. Beim Staatssekretariat für Migration, bei dem die Eritreerin ihren Asylantrag gestellt hatte, habe sie angegeben, am 1. Januar geboren zu sein.
Der Sozialvorstand, der die Eritreerin begleitet, wendet ein: «Alle Eritreer nennen den 1. Januar als Geburtsdatum.» Die Zivilstandsbeamtin nickt, in Eritrea seien Geburtsdaten nicht wichtig. Nur funktioniere die Schweiz etwas anders.
Bürokratischer Hürdenlauf
Szenen wie diese spielen sich in allen Zivilstandsämtern ab, auf denen Migrantinnen ohne Papiere ihre Babies registrieren wollen. Bei Schweizerinnen ist das eine Sache von Stunden. Das Spital liefert alle notwendigen Papiere. Das
Schweizer Zivilgesetzbuch aber schreibt vor, dass Geburtsscheine für Neugeborene erst ausgestellt werden, wenn die Personalien ihrer Mütter erfasst sind.
Damit beginnt ein bürokratischer Hürdenlauf: Brieflich fordern die Zivilstandsbeamten Migrantinnen auf, Papiere aus der Heimat zu beschaffen, die ihre Identität belegen können.
Recht des Kindes versus Missbrauchsgefahr
In der Regel dauere es vier bis fünf Monate, bis die Personalien von Asylbewerberinnen und Flüchtlingen erfasst werden können, heisst es auf den Zivilstandsämtern. Das ist problematisch: Die UNO-Kinderrechtskonvention verlangt, dass ein Kind unverzüglich nach der Geburt registriert wird. Ohne Geburtsschein existiert es nicht in der Schweiz.
Der Druck auf die Beamten, die Mütter rasch ins Personenregister aufzunehmen, ist gross. Haben die Frauen keine Papiere, werden in der Regel nur Name, Vorname und Geburtsjahr erfasst. Ob diese Angaben stimmen, weiss niemand.
Falsche Altersangabe, um früher AHV-Rente zu beziehen
Aus dem Schweizer Personenregister können aber weitreichende Ansprüche abgeleitet werden: Kinderzulagen zum Beispiel oder Sozialversicherungsleistungen. Eine Flüchtlingsfrau, die ein höheres Alter angebe, komme so früher in den Genuss ihrer AHV-Rente, erklärt Peter Naef, Chef der Aufsichtsbehörde über die Zivilstandsämter im Kanton Solothurn.
Er verweist auf den Fall eines Mannes aus Bangladesch, der anfangs Jahr vor dem Zürcher Obergericht verhandelt wurde. Als er seinen Asylantrag vor 24 Jahren stellte, erfand der Mann ein Geburtsjahr, weil Bangladesch seine Geburt nicht erfasst hatte. Im Alter von 48 wollte er sein Geburtsjahr beim Zivilstandsamt auf 57 Jahre abändern, so dass er früher pensioniert werden könnte. Gleichzeitig gab er vor Gericht zu, nicht zu wissen, wie alt er sei. Der Richter sagte: «Eventuell wird ihr neues Alter nicht eingetragen. Dann arbeiten Sie bis 74, aber daran sind Sie selbst schuld.»
50 Prozent falsche Angaben über die Identität im Kanton Solothurn
Peter Naef, Chef der Solothurner Aufsichtsbehörde, ist besorgt: Die Hälfte der Mütter, die im Kanton Solothurn in den letzten fünf Jahren registriert wurde, hatte falsche Angaben gemacht. Das zeigte sich Jahre später, als die Mütter plötzlich doch noch Identitätspapiere aus der Heimat brachten. Peter Naef: «Wir machen den Spagat zwischen einer willkürlichen Beurkundung und der Wahrung der Rechte des Kindes.»
Verdoppelung der Gerichtsfälle im Kanton Aargau
Die kompliziertesten Fälle kommen vor Gericht. Im Kanton Aargau hätten sie sich seit 2013 jeweils jährlich verdoppelt, sagt Oliver Werthmüller von der Aufsichtsbehörde über die Aargauer Zivilstandsämter.
Wie aber stellt ein Richter Personalien fest, wenn es weder Papiere noch Zeugen gibt? «Gute Frage!» Richter Martin Stosberg am Bezirksgericht Winterthur lacht. Er besorge sich allfällige Akten vom Staatssekretariat für Migration und vom Zivilstandsamt, hole die Stellungnahme bei der Aufsichtsbehörde ein und befrage die Person selber noch rund eine Stunde lang. Stosberg: «Die Situation ist unbefriedigend, weil ich nur jene Migranten sehe, deren Aussagen widersprüchlich sind.» Im Extremfall könne er die Registrierung verweigern, was aber eher selten vorkomme.
Zivilstandsbeamte riskieren, sich strafbar zu machen
Auf dem Zivilstandsamt Winterthur klagt man über die zusätzliche Arbeitsbelastung. Eine Sisyphusarbeit? «Natürlich ringt man mit sich», sagt Karin Wolfer. «Aber ich kann nichts beurkunden, hinter dem ich nicht stehen kann». Dabei geht es um mehr als Arbeitsethik. Mütter mit falscher Identität bringen die Zivilstandsbeamten in die Zwickmühle. Die Beamten riskieren, sich strafbar zu machen, wenn sie falsche Angaben beurkunden, sagt Peter Naef. Urkundenfälschung im Amt wird mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft.
Jetzt reagiert die Schweizerische Konferenz der Aufsichtsbehörden über die Zivilstandsämter: Papierlose Mütter sollen künftig im Personenregister speziell gekennzeichnet werden. Auf diese Art will man sicherstellen, dass die Mütter keine weiteren Rechtsansprüche geltend machen können.