Flug TK 1914 nach Istanbul stand schon am Gate in Zürich-Flughafen, die Passagiere waren zum Einsteigen bereit. Unter ihnen ein 24-jähriger Mann aus Embrach ZH. Sein Reiseziel: Der so genannte «Islamische Staat».
Davon jedenfalls ist die Bundesanwaltschaft (BA) überzeugt. Ab Donnerstag steht der Schweizer mit libanesischen Wurzeln vor Bundesstrafgericht in Bellinzona. Denn bis an Bord der Turkish Airlines Maschine an jenem 7. April 2015 schaffte es der Mann nicht. 18 Minuten vor Abflug klickten die Handschellen, um 14.22 Uhr wird der Mann festgenommen.
Es ist der erste Fall eines mutmasslichen Dschihadisten aus der Schweiz, der noch vor seiner Abreise gestoppt wird und sich vor Gericht verantworten muss. Der Angeklagte bestreitet die Vorwürfe der Bundesanwaltschaft.
Angeklagter stand in Kontakt mit Dschihadisten in Syrien
Auf 14 Seiten hat die für Terrorismusfälle spezialisierte Bundesanwältin zusammengefasst, weshalb der Schweizer mit libanesischen Wurzeln zu verurteilen sei. Die Straftatbestände lauten auf Verstoss des so genannten IS-Verbots, das erst seit 1. Januar 2015 so in Kraft ist, allenfalls auf Unterstützung einer kriminellen Organisation sowie auf mehrfache Gewaltdarstellung.
Die Ermittlungen von BA und Bundeskriminalpolizei haben gemäss Anklageschrift auch gezeigt, in welchem Umfeld sich der junge Mann vor seiner Abreise bewegte: Der islamistischen Szene um Winterthur, die in den vergangenen Jahren immer wieder in die Schlagzeilen geriet. Mindestens sieben Personen sind von hier in den Dschihad in Syrien und Irak gezogen. Mit mehreren Dschihadisten, die es aus der Schweiz ins Kriegsgebiet schafften, stand der Angeklagte in Kontakt.
Dschihad-Aspirant wurde von Polizei observiert
Die Ermittlungen der BA förderten ein weiteres pikantes Detail zu Tage: Von seinen Glaubensbrüdern verabschiedete er sich vor dem Eingang der Moschee des Vereins An’Nur. Die Moschee stand wiederholt im Verdacht, das Zentrum der späteren Dschihad-Reisenden gewesen zu sein. Die Betreiber stritten eine aktive Rolle in der Radikalisierung aber stets ab.
Nun dürfte die Luft enger werden für die Moschee-Betreiber, denn in der Anklageschrift ist erstmals von Behördenseite bestätigt, wie wichtig diese für die Dschihad-Reisenden offenbar ist. Die Anklage kann mit konkreten Details aufwarten: Es war am 3. April 2015, also vier Tage vor seiner Verhaftung am Flughafen, als sich der Angeklagte ausgerechnet dort von Gleichgesinnten verabschiedete.
In der Anklageschrift ist der genaue Zeitpunkt aufgeführt: Zwischen 13.30 und 14.45 Uhr. Die Verabschiedung dauerte also über eine Stunde, wie die Ermittlungen ergaben. Wahrscheinlich wurde der Mann schon damals von der Polizei verdeckt observiert.
Kriegsreporter Pelda: «Absolut unglaubwürdig»
Der Kriegsreporter Kurt Pelda recherchiert seit Längerem über die Dschihadisten aus Winterthur. Mit mehreren von ihnen stand er direkt in Kontakt. Er hält die An’Nur-Moschee für einen der wichtigsten Treffpunkte der islamistischen Szene Winterthurs.
Die Erkenntnisse der Bundesanwaltschaft bestärken nun seine Beobachtungen. «In diesem Fall, in dem ich mich ziemlich gut auskenne, immer wieder mit Menschen spreche, die in diese Moschee gehen, dann ist das absolut unglaubwürdig», so Pelda. «Denn diese Jugendgruppe bleibt nach dem Freitagsgebet noch in der Moschee, diskutiert mit dem Imam und den Nebenimamen auch mit dem Präsidenten mit dem Moschee-Verein und es ist also völlig unglaubwürdig, wenn Sie behaupten, sie hätten von alldem überhaupt nichts gewusst.»
Vereinspräsident der Moschee bestreitet Verabschiedung
Zum Zeitpunkt der Abschiedsfeier war Atef Sahnoun Präsident des Vereins, der für die Moschee verantwortlich ist. Er beteuerte mehrmals öffentlich, er und die Imame der Moschee hätten mit der Radikalisierung der jungen Männer nichts zu tun.
Sahnoun ist als Präsident zurückgetreten, heute amtiert Ilir Hamiti. Auf Anfrage teilte er «10vor10» schriftlich mit: «Diese Information haben wir nur durch die Medien erhalten. Ein solches Verhalten hat mit unserem Verein nichts zu tun. Wir möchten betonen, dass diese Person sich von niemandem in unserer Moschee verabschiedet hat.»
Winterthur investierte in Weiterbildung und neue Fachstelle
Die Aussagen der An’Nur-Vertreter stehen im Kontrast zur Darstellung der Anklage, wonach die über einstündige Verabschiedung direkt vor der Türe der Moschee stattgefunden habe.
Ein Dschihadist wird vor seiner Abreise am helllichten Tag unter freiem Himmel verabschiedet, mitten in Winterthur – die städtischen Behörden stehen mit dem Prozess in Bellinzona erneut vor drängenden Fragen.
Stadtrat Nicolas Galladé sagt, die Behörden würden sich schon lange mit dem Thema Radikalismus befassen. «In Winterthur haben sich bereits Anfang 2015 alle Stellen, die im weiteren Sinn involviert sein können – Jugendarbeit, Schulsozialarbeit, Integrationsförderung in verschiedenen Arbeitsgruppen – mit dem grundlegenden Thema Radikalismus im weitesten Sinn befasst. Und es gab seitdem verschiedene Weiterbildungsveranstaltungen für beteiligte Personen in diesen Kreisen. Und wir haben zuletzt auch eine Fachstelle für Gewaltprävention und Extremismus geschaffen, die am 1. Oktober ihre Stelle antreten wird.» Spezielle Präventionsmassnahmen gegenüber der An’Nur-Moschee seien nicht vorgesehen, sagte Galladé.
Strafrechtsexperte: «Mir persönlich reicht es nicht für eine Verurteilung»
Die Verhandlung vor Bundesgericht soll bis Freitag dauern, wann das Urteil zu erwarten ist, ist offen. Doch wie wahrscheinlich ist eine Verurteilung des Mannes? Beobachter halten die Beweislast punkto mehrfacher Gewaltdarstellung für relativ schwer. Hier geht es um Filme und Fotografien, das meiste davon IS-Propaganda wie Exekutionen. Die Ermittler stellten das Material auf seinem Mobiltelefon sicher.
Doch die Bundesanwaltschaft hat den Mann auch in weiteren Punkten angeklagt, so wegen einem Verstoss gegen das IS-Verbot und allenfalls der Unterstützung einer kriminellen Organisation.
Konrad Jeker, Dozent für Strafprozessrecht und Rechtsanwalt, spricht von einem aussergewöhnlichen Fall. «Speziell ist, dass erstmals ein Fall vor Gericht kommt, in dem die beschuldigte Person noch nicht einmal ausgereist ist. Sie war auf der Ausreise und wurde dann verhaftet. Damit stellt sich Frage: Ist das schon genug, um den Straftatbestand zu erfüllen?»
Belastend für den Angeklagten sei, dass er gemäss Bundesanwaltschaft die Ankunft in der Türkei sowie seine Weiterreise organisiert habe, dafür lägen auch erhebliche Beweismittel vor. Ob das für eine Verurteilung reiche, sei eine andere Frage, so Jeker. Er ist skeptisch. «Mir persönlich reicht es nicht, weil eine aktive Unterstützung noch nicht erfüllt ist. Es ist keine konkrete Handlung im Hinblick auf eine strafbare Tat dieser kriminellen Organisation ersichtlich, und das ist auch nicht behauptet.»
Der Angeklagte bestreitet die Vorwürfe weitgehend. Nach vierzehn Tagen in Untersuchungshaft wurde er im April 2015 entlassen, er musste aber Pass und Identitätskarte abgeben und sich regelmässig auf einem Polizeiposten melden. Weder der Angeklagte selber noch sein Anwalt wollten sich gegenüber SRF äussern.