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Schweiz «Schweizer schauen weg, wenn es um Armut geht»

Jeder Dreizehnte in der Schweiz hat weniger als 2200 Franken im Monat zur Verfügung. Das sagt das Bundesamt für Statistik. Doch was heisst das für den Einzelnen? Ein Betroffener erzählt.

Die Zahlen

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Jürg B.* und seine Frau haben zusammen ein Netto-Einkommen von 3300 Fr. im Monat, die Sozialhilfe inbegriffen. Er ist Zeitungsverträger, sie arbeitet bei McDonald’s. Beide arbeiten 30 bis 40 Prozent, mehr Stunden erhalten sie nicht. Monatlich stehen ihnen 1800 Fr. zur freien Verfügung. Das Paar hat kein Vermögen. Es hat einen 7-jährigen Sohn.

SRF News Online: Sind Sie glücklich?

Jürg B.*: Ja, wir sind glücklich.

Was ist ihr grösster Traum, unabhängig davon, ob es mit Geld machbar ist oder nicht?

Ich habe eine Lehre als Koch angefangen und musste diese Lehre wegen eines Unfalls abbrechen. Jetzt mit Familie liegt eine Lehre nicht mehr drin. Ich wäre gerne Koch.

Was wünschen Sie sich, was vielleicht realisierbar ist?

Ich würde gerne so viel Geld verdienen, dass ich mit meinem Lohn die Familie unterhalten könnte, ohne dass meine Frau arbeiten müsste. Zirka 4200 Franken würden da reichen. Da wäre ich überglücklich.

Welchen Luxus leisten Sie sich?

Meine Frau und ich leisten uns einmal im Jahr ein Wochenende für ein Festival in den Niederlanden. Und sonst hat unser Kleiner Vorrang.

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Viele Reiche sagen, Geld mache nicht glücklich, aber es biete Sicherheit. Wenn Sie in Ihre Zukunft blicken, wovor haben Sie Angst?

Dass ich oder meine Frau arbeitslos werden. Das ist etwas, was uns immer im Nacken sitzt. Wir möchten um keinen Preis ganz in die Sozialhilfe abrutschen. Ich selber war schon mal ganz abhängig vom Staat. Da hat man dann wirklich nichts mehr zum Leben. Zum Beispiel kannst du nicht einfach spontan in ein Restaurant sitzen und dir einen Kaffee gönnen. Oder es wird schwierig, jemanden nach Hause zum Essen einzuladen.

Streiten Sie mit Ihrer Frau oft über Geld?

Wir streiten uns mehr über Geld als uns lieb ist. Wir haben beide einen sturen Schädel. Es geht häufig darum, welche Anschaffung wir nun machen und ob wir uns das überhaupt leisten können.

Zum Beispiel?

Wir gehen manchmal wandern und ich finde, in den Bergen braucht man Wanderschuhe. Meine Frau war dagegen. Ich hab ihr die Schuhe dann trotzdem gekauft, für 40 Franken.

Wann dachten Sie das letzte Mal, verdammt, jetzt müsste ich Geld haben? Wann hat sie das so richtig geärgert?

Das war am letzten Geburtstag meiner Frau. Da waren wir pleite. Ich konnte ihr kein Geschenk kaufen. Das tat weh.

Denken Sie, Sie leben in einem guten Land, in dem auch Schwächere Platz haben?

Das Minimum laut Skos

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Das soziale Existenzminimum gestattet bescheidene Auslagen, auch für soziale Kontakte. Im Gegensatz dazu umfasst das absolute Existenzminimum nur die absolut lebensnotwendigen Güter, ohne die soziale Integration zu berücksichtigen. Das soziale Existenzminimum ist Massstab für die nationale Armutsberichterstattung des Bundesamts für Statistik.

Eher nein. Da sind die Schweizer konservativ. Sie schauen gerne weg, wenn es um Armut geht. Wenn ich offenlege, dass ich nicht so viel Geld habe, dann schauen mich die Leute manchmal schräg an. Das Thema wird weitgehend totgeschwiegen. Auch die Politiker schauen gerne weg.

Was denken Sie, wenn Bundesrat Schneider-Ammann in der «Arena» sagt, uns geht es allen gut, wir sind ein wohlhabendes Land?

Ich hab das gesehen, als er das sagte. Ich sass wirklich fassungslos da. Ich dachte mir, ihm geht’s gut und er hat keine Ahnung, dass es auch Leute gibt, die wirklich kämpfen müssen. Das war für mich ein Schlag ins Gesicht.

Das Gespräch führte Christa Gall

*Name von der Redaktion geändert

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