Die 34-jährige Sozialtherapeutin Adeline F. wurde am 13. September 2013 mit aufgeschnittener Kehle an einen Baum gefesselt in einem Waldstück bei Genf tot aufgefunden. Der mutmassliche Täter Fabrice A. befindet sich zum Zeitpunkt des Leichenfunds noch immer auf der Flucht. Der 42-Jährige ist schweizerisch-französischer Doppelbürger. Ihm droht die lebenslange Verwahrung.
Was war geschehen? Dem Tötungsdelikt ging eine Kette von fragwürdigen Entscheidungen voraus. Diese sorgten für Empörung. Der Angeklagte, Fabrice A., sass wegen zweifacher Vergewaltigung eine Freiheitsstrafe von 20 Jahren ab. Seit Sommer 2012 war er im Genfer Zentrum «La Pâquerette» inhaftiert. Die Institution ist auf die Resozialisierung gefährlicher Gewaltstraftäter spezialisiert. Dabei setzte man auf sozialtherapeutische Massnahmen.
Ein Messer zum Reinigen von Pferdehufen
Im Hinblick auf eine bedingte Haftentlassung wurde Fabrice A. für eine Reittherapie ein begleiteter Freigang gewährt. Im Reitzentrum kamen am 12. September 2013 aber weder der Häftling noch die 34-jährige Sozialtherapeutin an. Einen Tag später dann die traurige Gewissheit: Die Begleitperson tot, der Täter auf der Flucht. Fabrice A. wurde am 15. September an der deutsch-polnischen Grenze gefasst. Er wollte in Polen eine Frau aufsuchen, die ihn vor Jahren verlassen hatte.
Im Auto des Flüchtigen fand die Polizei die mutmassliche Tatwaffe: ein Messer. Dieses hatte Fabrice A. auf dem Weg zur Reittherapie gemeinsam mit seinem Opfer besorgt. Er hatte angegeben, das Werkzeug für die Reinigung von Pferdehufen zu benötigen.
Laut Anklageschrift bereitete der Angeklagte seine Tat und die Flucht ab dem Zeitpunkt seiner Überweisung ins Genfer Zentrum «La Pâquerette» minuziös vor. Er suchte im Internet nach einem passenden Messer, wählte bewusst ein abgelegenes Reitzentrum für seine Therapie aus. Er machte während eines ersten Freigangs ein passendes Waldstück ausfindig.
Fabrice A. liess sich auch unter einem Vorwand Geld für seine Flucht vorschiessen und vergewisserte sich, dass Adeline am besagten Tag tatsächlich verfügbar war. Die Therapeutin war zum Zeitpunkt der Tat seit sechs Jahren im Zentrum angestellt. Gemäss «NZZ» hatte sie über 200 begleitete Freigänge hinter sich. Weil sie seiner früheren polnischen Freundin glich, hatte sie Fabrice A. zu seinem Opfer auserkoren.
Politisches Erdbeben in Bern
Das Tötungsdelikt an Adeline F. erschütterte die Öffentlichkeit in vielerlei Hinsicht. In der Genfer Politik löste es ein Beben aus. Eine vom früheren Staatsrat Bernard Ziegler durchgeführte Administrativuntersuchung kam zum Schluss: Der Häftling hätte das Gefängnis nicht verlassen dürfen.
Die Genfer Politik tut sich jedoch nach wie vor schwer mit der Aufarbeitung des Falls. So wurde die Direktorin des Amtes für Straf- und Massnahmenvollzug nach dem Delikt in den Rang einer einfachen Angestellten zurückgestuft. Dieser Entscheid wurde vom Genfer Verwaltungsgericht Anfang September aufgehoben. Nach Ansicht der Justiz lag keine Verletzung der Amtspflicht vor.
Nach der Tötung der jungen Frau muss nun jeder Freigang eines so gefährlichen Häftlings über das Pult des zuständigen Sicherheitsdirektors gehen.
Der Genfer Grosse Rat setzte eine parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) ein. Die Aufgabe: die Rolle des Kantons unter die Lupe nehmen. Diese verschob die Veröffentlichung ihres Berichts aber mehrmals, zuletzt auf Januar 2017.
Verwahrung oder nicht?
Auch weil zu diesem Tötungsdelikt noch immer die Emotionen hochgehen, gelten bei dem zweiwöchigen Prozess ab dem 3. Oktober im Genfer Palais de Justice verschärfte Sicherheitsvorkehrungen. Über 20 Medien haben sich für den Prozess angemeldet.
Der Angeklagte wird während der Gerichtsverhandlung aus der Waadt ins Gefängnis Champ-Dollon verlegt, wo er bereits vor dem Tötungsdelikt einsass. Die Abteilung «La Pâquerette» gibt es allerdings nicht mehr – nach dem Fall wurde sie geschlossen und durch eine neue Abteilung mit dem Namen «Curabilis» ersetzt.
Der Angeklagte muss sich vor Gericht wegen Mordes, Freiheitsberaubung und wegen sexueller Nötigung verantworten. Er hatte die Sozialtherapeutin dazu gezwungen, ihm einen Kuss zu geben, als sie bereits an den Baum gefesselt war.
Weil er den Dienstwagen mitsamt den persönlichen Gegenständen des Opfers für die Flucht gestohlen hatte, wird ihm auch Diebstahl vorgeworfen. Im Prozess wird auch die Frage der lebenslänglichen Verwahrung aufkommen.
Noch ist unklar, ob die Genfer Staatsanwaltschaft diese strengste Sanktion fordern wird. Bereits durchgesickert ist, dass die beiden psychiatrischen Gutachter keine lebenslängliche Verwahrung empfehlen, obwohl sie den Angeklagten als gefährlich einschätzen. Die Frage der Verwahrung wurde in der Westschweiz erst Anfang September lebhaft debattiert.
Parallelen zum Tötungsdelikt Marie
Der Mörder der 19-jährigen Marie wurde von der Waadtländer Justiz zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe und einer lebenslänglichen Verwahrung verurteilt. Der Täter schlug im Mai 2013 zu – rund vier Monate vor dem Tötungsdelikt Adeline.
Die Fälle wurden oft miteinander verglichen, weil auch der 40-jährige Mörder von Marie bereits vor diesem Mord straffällig geworden war. Er hatte 1998 seine damalige Ex-Freundin vergewaltigt und getötet. Zum Zeitpunkt der Wiederholungstat verbüsste er eine Reststrafe im Hausarrest.