Insgesamt registrierten die Schweizer Kliniken im vergangenen Jahr 1292 Fälle von vermuteter oder sicherer Kindsmisshandlung, wie die Fachgruppe Kinderschutz der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie mitteilt. Dies sind 13 Prozent mehr Fälle als im Jahr zuvor.
Die Fachgruppe führt die Zunahme auf eine erhöhte Sensibilisierung der Fachpersonen sowie eine bessere Erfassung der Fälle zurück. An der Zählung beteiligten sich fast alle grossen und mittleren Kinderkliniken.
Die Spitäler schauten zusehends genauer hin, unterstreicht Ulrich Lips, Vizpepräsident der Fachgruppe. Er leitete bis vor einem Jahr die Kinderschutzgruppe am Zürcher Kinderspital. Er sieht das Resultat auch im Zusammenhang mit den vor fünf Jahren lancierten Programmen.
Sexueller Missbrauch in jeden fünften Fall
Etwas mehr als ein Viertel der Kinder wurde körperlich misshandelt. Je ein weiteres Viertel wurde psychisch misshandelt oder vernachlässigt. Bei etwas mehr als einem Fünftel der Fälle erlitten die Kinder sexuellen Missbrauch.
Lips stellt fest, dass körperliche Misshandlungen am einfachsten aufzudecken seien. In der Regel würden Verletzungsmuster gefunden, die zu dem von den Eltern geschilderten angeblichen Unfall nicht passten. Bei den seelischen und anderen Formen von Misshandlung suche man nach Verhaltensänderungen des Kindes, beispielsweise ein Leistungsknick in der Schule oder plötzliche Depressionen.
Häufig werden die Kinder auf mehr als eine Weise misshandelt, wie die Fachgruppe festhält. Fast die Hälfte der Opfer war jünger als sechs Jahre – am stärksten betroffen waren Kinder, die weniger als ein Jahr alt waren. Sexuellen Missbrauch erlitten überwiegend Mädchen (76 Prozent), beim Rest der Misshandlungsfälle war das Geschlechterverhältnis recht ausgeglichen.
Elternhaus und «sozialer Nahraum» als Tatorte
Meistens misshandelte ein Familienmitglied (78 Prozent) oder jemand aus dem Bekanntenkreis (14 Prozent) das Kind. Bei sexuellem Missbrauch ist der Anteil der Täter aus dem Familienkreis etwas weniger hoch. Sexueller Missbrauch wird zudem meistens von Männern verübt. Die Täterschaft im «sozialen Nahraum» lebe im Umfeld des Kindes und kenne dessen Lebensrhythmus, bemerkt Lips.
Über alle Misshandlungsfälle betrachtet beträgt der Anteil der weiblichen Täterschaft 28 Prozent – bei einer weiteren Gruppe von Fällen wird die Misshandlung von beiden Elternteilen verübt. Drei Kinder sind im vergangenen Jahr an den Folgen der Misshandlung gestorben – sie waren alle weniger als ein Jahr alt.
Zahlreiche Strafanzeigen
Im Verdachtsfall wird laut Lips je nach Schwere des Falles vorgegangen. Bei einer relativ geringfügigen Misshandlung wie einem Bluterguss und einsichtigen Eltern könnten Hilfestellungen etwa durch die Kinderärztin geleistet werden, sagt Lips. Natürlich immer mit einer gewissen Kontrolle, dass nichts Weiteres passiert. «Alles, was über die ganz leichten Verletzungen hinausgeht oder wenn die Einsicht der Eltern fehlt, wird den Behörden gemeldet», so Lips.
In jedem vierten Fall schaltete die Kinderschutzgruppe die Behörden ein. Bei gut sechs Prozent der Misshandlungen erfolgte eine Strafanzeige. In vielen Fällen hatte zudem bereits eine andere Stelle die Behörden oder die Justiz benachrichtigt.
Präventionsprogramm gefordert
Lips betont, dass den misshandelten Kindern primär einmal medizinisch geholfen werden muss. Alles andere sei eine Frage der Vorsorge, damit Kinder durch Erwachsene gar nicht mehr misshandelt werden können, sei es das psychisch, körperlich oder sexuell. Hier wäre laut Lips ein «ganz grosses Präventionsprogramm» nötig, damit die Anzahl dieser Fälle mit der Zeit langsam zurückgeht.