SRF News Online: Wie viel Geld würde heute offengelegt, wenn der automatische Informationsaustausch in der EU Realität wird?
Hans-Joachim Jaeger: Das wissen wir nicht. Der automatische Informationsaustausch, der jetzt in der EU verhandelt werden soll, betrifft nur einen Teil des versteckten Geldes. Es handelt sich um jenes Geld, das auf anonymen Bankkonten liegt. Wenn sie aber Zahlen wollen: Es gibt allgemeinere, weltweite Schätzungen dazu, wie viel Geld in Steueroasen liegt. Die sind jedoch mit viel Vorsicht zu geniessen. Die Boston Consulting Group hat 7,8 Billionen Dollar Offshore-Gelder berechnet, die Zeitung «Guardian» geht von 21 Billionen Dollar aus, während die Organisation Tax Justice Network bis zu 32 Billionen Dollar angibt. Schon diese Spannweite zeigt das Problem bei den Zahlen: Wir wissen nicht, wie diese genau zustande gekommen sind. Wurden beispielsweise nur Gelder und Wertschriften, die eine Person direkt hält, in die Berechnungen einbezogen? Oder wurden auch Anlagen berücksichtigt, die über Trusts, Stiftungen oder Gesellschaften, also indirekt, investiert sind?
Mit anderen Worten: Das Abkommen zwischen der Schweiz und der EU wird jene nicht abschrecken, die ihr Geld verstecken wollen?
Das heutige Abkommen wird solche Personen und Firmen in der Tat nicht zu ehrlicheren Steuerzahlern machen. Abgeschreckt werden diese Personen erst dann, wenn auch Trusts und ähnliche Vehikel offengelegt werden müssten. Wenn also beispielsweise das deutsche Finanzamt weiss, dass sein Bürger Hans Muster einen Trust auf den Cayman-Inseln besitzt.
Sie meinen, dass Trusts weltweit offengelegt werden müssten?
Nein, ich glaube, wenn diese komplette Offenlegung nur schon innerhalb der EU und deren verbundenen Gebieten, etwa den Cayman-Inseln, durchgesetzt würde, dann würde das abschreckend auf Steuersünder wirken.
Die gehen doch einfach nach Singapur, womöglich über eine Schweizer Bank, die dort einen Ableger hat?
In jedem System gibt es Ausweichmöglichkeiten. Aber die Hürde für Hans Muster ist schon höher, wenn er nach Singapur gehen muss. Es tönt banal, aber Zeitunterschied, Sprache und Kultur spielen schon eine Rolle. Und wenn Hans Muster sich nun an eine Schweizer Bank wendet, die bereit wäre, sein Geld in Singapur zu verstecken, dann würde das vielleicht eine Zeit lang klappen. Nur: Eine Schweizer Bank hat mittel- bis langfristig kein Interesse, Geschäfte mit solchen Kunden über Singapur abzuwickeln.
Weshalb nicht?
Weil Singapur als grösserer Offshore-Finanzplatz genauso unter Druck steht wie die Schweiz, mehr Transparenz zu schaffen. Die europäischen Länder, die OECD und andere Interessengruppen wollen nicht nur von der Schweiz mehr Informationen über ausländische Bankkunden, sie wollen diese auch von anderen massgeblichen Ländern. Auch Singapur steht nicht gerne auf einer schwarzen Liste.
Noch machen die Banken gerne Geschäfte auf den Cayman-Inseln, in Singapur und Co. Warum geht die EU nicht innerhalb ihrer eigenen Grenzen schärfer gegen Trusts und andere Vehikel vor?
Die Trusts und ihre Verwalter haben eine starke Lobby. Vor allem in Grossbritannien haben viele Politiker einen Interessenkonflikt. Die Steueroasen befinden sich zwar nicht in Grossbritannien selber, sondern in ihren verbundenen Gebieten. Letztendlich fliesst das Geld aber wieder an den Finanzplatz nach London zurück. Das viele Geld muss ja angelegt werden. Und ihren Finanz- und Bankenplatz möchten die Politiker natürlich schützen. Ich schätze, dass London die grösste Drehscheibe für unversteuertes Geld aus solchen Trustkonstruktionen ist, grösser noch als Plätze in den USA oder Singapur, auch grösser als die Schweiz.
Grossbritannien macht aber offiziell Druck auf Steuersünder. Alles nur Heuchelei?
Das müssen Sie Herrn Cameron fragen. Er macht zunächst einmal Druck auf die Kanalinseln und gewisse karibische Inseln, die Steuertransparenz zu erhöhen und ihr Haus in Ordnung zu bringen. Das hört sich löblich an. Der Interessenkonflikt, den ich beschrieben hatte, besteht aber weiterhin. Die Gefahr, dass es bei Lippenbekenntnissen bleibt, ist damit nicht von der Hand zu weisen. Vermutlich kommt es da auch ganz gut zupass, dass man mit einem möglichen Austritt aus der EU drohen kann: So schafft man sich vielleicht eine bessere Verhandlungsposition gegenüber anderen EU-Ländern.
Das Interview führte Christa Gall.