Opfer oder Angehörige sollen grundsätzlich vom Kanton eine Entschädigung erhalten, wenn ein Straftäter rückfällig wird. Das fordert SVP-Nationalrätin Natalie Rickli. Ist das richtig?
Nein, denn wir haben schon heute die nötigen Gesetze. Einerseits gibt es das Opferhilfegesetz. Für Opfer einer schweren Straftat, welche in ihrer physischen, psychischen oder sexuellen Integrität schwer geschädigt worden sind, sieht das Gesetz bereits heute therapeutische und finanzielle Unterstützung vor. Diese muss von der verurteilten Person bezahlt werden. Kann der Täter nicht zahlen, was häufig der Fall ist, übernimmt der Staat die Kosten. Zudem gibt es in den Kantonen und beim Bund Gesetze, welche die Haftung des Staates regeln, wenn ein Staatsangestellter schuldhaft handelt und so jemand zu Schaden kommt.
Ich nehme aber an, dass Frau Rickli mit ihrem Vorschlag nicht in erster Linie auf die Opferentschädigung abzielt. Es scheint vielmehr, dass gewisse politische Kreise grossen Druck erzeugen wollen, damit die verantwortlichen Richter und Vollzugsorgane künftig noch restriktiver entscheiden werden.
Würde eine Neuerung, wie sie Natalie Rickli vorschlägt, überhaupt Auswirkung auf die Entscheidungsfindung im Strafvollzug haben?
Es warten ja noch andere Initiativen in der Pipeline, wie jene von Frau Anita Chaaban: Wenn Verantwortliche einen Täter frühzeitig entlassen oder ihm Hafturlaub gewähren, sollen sie persönlich dafür haften, wenn dieser rückfällig wird. Allein durch die Lancierung solcher Initiativen wird an grundlegenden rechtsstaatlichen Mechanismen gerüttelt. Tatsache bleibt, dass auch ein Täter einer abscheulichen Straftat ein Mensch ist und deshalb stehen ihm in einem Rechtsstaat wie der Schweiz auch Verteidigungsrechte zu. Wenn nun der Druck auf die Entscheidungsträger noch mehr erhöht wird, können diese nicht mehr unabhängig und dem Gesetz entsprechend entscheiden. Es entsteht System, in welchem zu Lasten der Täter und der Insassen entschieden wird.
Warum ist der Druck auf die Richter und Vollzugsverantwortlichen heute schon gross?
Es ist diese Angst, dass ein Entscheid irgendwie persönliche Auswirkungen haben könnte. Es reden alle darüber. Die Stimmung in den Medien, in der Politik und somit schliesslich auch in der Bevölkerung wird durch diese Initiativen und Diskussionen stark beeinflusst, so dass die Verantwortlichen – häufig auch unbewusst – in vorauseilendem Gehorsam handeln.
Kennen Sie Kollegen, die sich von dieser Stimmungslage beeinflussen lassen?
Wenn ich mit Richtern und anderen Fachleuten aus dem Strafvollzug spreche, dann sagen die, dass der Druck in den letzten 10 bis 15 Jahren enorm zugenommen hat. Ich selbst habe auch im Strafvollzug gearbeitet und bin mit den Mechanismen vertraut. Es ist die Angst vor einer Medienschelte, die Angst vor einem Administrativ- oder gar vor einem Strafverfahren, die Angst vor einer Umplatzierung, die Angst vor dem Jobverlust, die heute immer mitschwingt.
Warum handelt ein Richter im Sinn der Gesellschaft, wenn er ein Risiko eingeht und einem Täter Urlaub gewährt?
In einem gut funktionierenden Rechtssystem müssen wir auf im Grundsatz auf die Rückführung der Insassen in die Gesellschaft hin arbeiten. Würden wir alle wegschliessen, dann hätten wir mit der Zeit Verhältnisse wie in Kalifornien, wo der Staat für den Strafvollzug mehr Geld ausgibt als für das öffentliche Bildungswesen. Das kann nicht das Idealbild einer modernen Gesellschaft sein. Die grosse Schwierigkeit ist, zu erkennen, welche Straftäter nicht mehr in die Freiheit entlassen werden können. Rückfallprognosen befassen sich mit künftigem menschlichem Verhalten und bleiben eine Prognose, ein Restrisiko bleibt bestehen. Es geht darum, dieses so klein wie möglich zu halten unter Achtung der rechtsstaatlichen Grundprinzipien.
Wie könnte man das Risiko für die Gesellschaft noch stärker minimieren?
Es gibt beispielsweise das Projekt «Risikoorientierter Strafvollzug», entwickelt von den Kantonen Zürich, St. Gallen, Thurgau und Luzern. Die Verantwortlichen konzentrieren sich auf die Frage der Rückfallgefahr eines Täters. Die Verfahren zur Täterabklärung, der Beurteilung ihrer Gefährlichkeit wie auch der Austausch der Informationen zwischen den Stellen im Vollzug wurden standardisiert und entsprechen dem neuesten Forschungsstand. Die Kantone arbeiten eng zusammen. Die forensischen Abklärungen werden ausschliesslich in Zürich gemacht, nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, mit gut ausgebildeten Leuten. So können auch kleine Kantone vom Knowhow profitieren. Jeder Kanton bleibt jedoch für seine Fälle zuständig, bezogene Leistungen werden untereinander abgegolten. Ein zukunftsweisendes Modell, finde ich.
Das Interview führte Christa Gall