SRF News: Als Chef des Nachrichtendienstes sehen Sie vieles, was wir Normalbürger nicht sehen. Wird man da etwas übermisstrauisch oder fast schon paranoid?
Markus Seiler: Nein, das wäre falsch. Dies würde es verunmöglichen, ein adäquates Bild der Bedrohungssituation zu zeichnen.
Ist das Problembewusstsein zu wenig entwickelt? Laufen wir zu sorglos durch die Welt?
In der Schweiz sind die Menschen im Wesentlichen mit ihrem Leben zufrieden. Wenn man zufrieden ist, legt man einen gewissen Optimismus an den Tag. Wir müssen schauen, dass dies nicht zu naiv ist. Es gibt gewisse Bedrohungen, die man unterschätzt, weil sie nicht sichtbar sind. Punkto Terrorismus hatten die Schweizer lange Zeit das Gefühl, dass dies die Schweiz nicht betrifft. Hier hat sich das Bewusstsein in den letzten Monaten und Jahren deutlich verändert. In anderen Bereichen wie der Cyber-Spionage ist dieses Bewusstsein an vielen Orten noch etwas unterentwickelt.
Länder wie Belgien, Frankreich oder die Türkei stehen stärker im Fokus der Terroristen.
Wie hat sich die Arbeit des Nachrichtendienstes in den letzten Jahren verändert?
Unsere Arbeit ist in den letzten Jahren viel unmittelbarer geworden. Wer bei uns im Bereich Terrorismus arbeitet, weiss, dass er Themen bearbeitet, die auch in der Schweiz passieren könnten.
Wie gross ist die Gefahr, dass die Schweiz direkt in den Fokus islamistischer Terroristen gerät?
Länder wie Belgien, Frankreich oder die Türkei stehen stärker im Fokus der Terroristen. Zum Teil weil sie militärisch in Syrien oder im Irak aktiv sind. Zum anderen ist die Schweiz als Teil Europas auch Teil des westlichen Gedankenguts und wird auch so wahrgenommen. Auch deshalb können wir nicht ausschliessen, dass eine terroristische Aktion auch einmal die Schweiz betreffen könnte. Zumal die Schweiz als Teil von Schengen in einem Raum ist, wo sich die Leute frei bewegen können.
Was ist Ihre Aufgabe? Was müssen Sie beobachten?
Zum einen müssen wir verstehen, was hinter den Phänomenen «Islamischer Staat» oder «Al Kaida» steckt. Worin unterscheiden sie sich? Was haben sie gemeinsam? Wie funktionieren sie? Wie geht es weiter? Nur wenn man diese Phänomene versteht, weiss man, auf was geschaut werden muss, wenn sich die Bedrohung gegenüber der Schweiz verändert.
Zum anderen geht es darum, sich auf der Ebene der einzelnen Personen ein Bild zu machen: Gibt es in der Schweiz Leute, die sich radikalisieren? Gibt es Leute, die nach Syrien oder in den Irak reisen? Haben sie die Absicht ein Attentat in der Schweiz zu verüben oder hier ein solches vorzubereiten?
Wie ist der aktuelle Kenntnisstand zu Schweizer Dschihadreisenden?
Wir haben heute eine Liste von Leuten, die nach unserem Erkenntnisstand in Kriegsgebiete wie Irak oder Syrien gereist sind. Momentan umfasst diese Liste 73 Fälle. Wir zählen diese Fälle seit dem Jahr 2001. Das zeigt, dass bei uns das Thema solcher Reisen nicht erst seit dem Aufkommen des IS aktuell ist, sondern sehr weit zurückgeht. Ein Dutzend Personen sind wieder in die Schweiz zurückgekehrt. Bei einigen Leuten gehen wir davon aus, dass sie in den Konfliktgebieten umgekommen sind. Ein anderer Teil befindet sich noch in den Gebieten.
Wie werden diese Leute konkret beobachtet?
Wir versuchen, mit den Mitteln und Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen und uns erlaubt sind, herauszufinden, um welche Leute es sich dabei handelt, was diese machen, wo sie sich aufhalten und woran sie sich allenfalls beteiligen? Oft outen sich diese Leute in den Sozialen Medien mit einem Pseudonym. Dann geht es in erster Linie darum herauszufinden, ob es diese Person überhaupt gibt und sie tatsächlich aus der Schweiz kommt.
Mittel- und langfristig wird China ein grosses Thema für die Schweiz sein.
In seinem Lagebericht nennt der NDB China als besonderen Schwerpunkt. Wieso schenken Sie ausgerechnet China besondere Aufmerksamkeit?
Wir bestimmen für jeden Jahresbericht ein Schwerpunktthema. Es ist nicht immer so, dass es sich dabei um die grösste Bedrohung handelt. Doch es ist wichtig, dass dieses Thema auf dem Radar bleibt. Mittel- und langfristig wird China ein grosses Thema für die Schweiz sein.
Welche Gefahr für die Schweiz geht aus China aus?
Ich würde nicht von Gefahr, sondern von Herausforderung sprechen. China wird sich als Akteur diplomatisch und sicherheitspolitisch positionieren. Mit dem Aufstieg Chinas stossen auch unterschiedliche Wertvorstellungen aufeinander. Dies betrifft die Frage nach Religionsfreiheit oder die Freiheit im Internet. Mit dem zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Gewicht Chinas werden solche Fragestellungen auch auf Europa und die Schweiz zukommen. Wir wollen aufzeigen, dass es richtig ist, sich mit dem Thema China auseinanderzusetzen.
Das Gespräch führte Marc Lehmann.