Bisher galt für die Wirtschaftsverbände: Die Masseneinwanderungsinitiative muss im Einverständnis mit der EU umgesetzt werden. Doch nun findet ein Umdenken statt. Auch bei Arbeitgeberpräsident Roland A. Müller: «Sollte keine Einigung mit Europa möglich sein, müssen wir aufgrund des Termins 2017 beginnen, die Initiative umzusetzen. Dann muss man eben unilateral die Frage der Schutzklausel diskutieren.»
Unilateral, also einseitig, soll die Schweiz auf dieses Instrument zurückgreifen. Denn nach der Interpretation der Schweizer Wirtschaftsverbände gilt die Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU nicht absolut. Bei ernsthaften wirtschaftlichen und sozialen Problemen könne die Schweiz die Zahl der Arbeitsbewilligungen beschränken. Diese Schutzklausel soll jetzt nach der Annahme der Zuwanderungsinitiative angewendet werden.
Wir glauben, dass eine einseitige Anwendung der Schutzklausel vielversprechend sein könnte.
Monika Rühl, die Direktorin des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse, kann sich als zweitbeste Variante eine solche Auslegung vorstellen: «Es braucht eine Lösung und Rechtssicherheit. Wir glauben, dass eine einseitige Anwendung der Schutzklausel vielversprechend sein könnte.»
Der Vorschlag des Wirtschaftsdachverbandes sieht vor, dass der Bundesrat jedes Jahr und je nach konjunktureller Lage zwei Schwellenwerte festlegt: Für bis zu 30‘000 Zuwanderer pro Jahr gälte dann beispielsweise die volle Personenfreizügigkeit. Bis 60‘000 Zuwanderer gäbe es Kontingente und darüber hinaus einen Zuwanderungsstopp.
Lange herrschte in der Wirtschaft weitverbreitet die Angst, die EU werde bei einer einseitig beschlossenen Massnahme die bilateralen Verträge kündigen. Rühl geht zwar davon aus, dass es Reaktionen aus der EU geben würde. Allerdings seien die Verträge auch im Interesse der EU: «An eine leichtfertige Kündigung glaube ich nicht.»
«Wenn es etwas Besseres gibt, dann sind wir sicher dafür zu haben. Dann muss man schauen, wie man das durchsetzt.»
Deshalb will die Wirtschaft jetzt mit der Umsetzung der Zuwanderungsinitiative vorwärtsmachen. Nach den eidgenössischen Wahlen seien die Parteien wieder wesentlich offener, berichtet Rühl. Auch mit Christoph Blocher habe es Gespräche gegeben.
Der SVP-Vordenker freut sich über das Entgegenkommen der Wirtschaft und signalisiert Kompromissbereitschaft. Auf fixen Kontingenten will er nicht zwingend beharren: «Wenn es etwas Besseres gibt, dann sind wir sicher dafür zu haben. Und dann muss man schauen, wie man das durchsetzt.»
Es sei auch denkbar, erneut eine Volksabstimmung zu machen, wenn es dafür eine Verfassungsänderung brauche, bemerkt Blocher. Die Zuwanderung in die Schweiz müsse aber deutlich beschränkt werde, sonst werde die SVP nicht zustimmen.
Keine Freude bei den Gewerkschaften
«Es wird gefährlich, wenn sich die Arbeitgeberverbände jetzt in die Arme der SVP begeben», warnt Daniel Lampart, Chefökonom des Gewerkschaftsbunds. Für ihn ist klar, dass es nicht Kontingente, sondern verstärkte flankierende Massnahmen braucht, damit die hiesigen Arbeitnehmer wegen der Zuwanderung nicht unter die Räder kommen: «Es ist viel besser, die Missbräuche direkt zu bekämpfen – mit Kontrollen und Bussen, falls sich die Arbeitgeber nicht an die Schweizer Löhne halten.»
Die «Gretchenfrage»
Aber selbst wenn Arbeitgeber, Economiesuisse und SVP jetzt hoffen, dass der Bundesrat möglichst schon diese Woche viele ihrer Vorschläge und Wünsche aufnimmt – von Einigkeit zu sprechen, wäre verfehlt. Denn umstritten bleibt, wie hoch die Zuwanderung noch sein dürfte.
Liegt die Zahl wie von der SVP angetönt eher bei 20‘000 Menschen pro Jahr? Oder eher bei 60‘000 gemäss den Wünschen der Wirtschaft? «Das ist dann die Gretchenfrage», sagt Blocher dazu.