Demokratie wird, einst behutsam installiert, aktuell in verschiedenen Ländern wieder abgetragen: in Ungarn, Polen, der Türkei und je nach Ausgang der anstehenden Wahlen womöglich auch in Frankreich und Deutschland. Als wären die dafür verantwortlichen Anmassungen der politischen Führer nicht schon bedenklich genug. Verheerend ist, dass der Rückbau der Bürgerrechte von nicht wenigen Menschen mitgetragen wird.
Eine im «Standard» erfasste Studie aus Österreich zeigt dies beispielhaft. Die Pädagogische Hochschule Wien hat 700 Lehrlinge befragt, wie sie das politische System erleben und was sie von der Demokratie halten. Der Befund: Zwar bekennen sich drei Viertel der Befragten grundsätzlich zur Demokratie als Regierungsform. Aber fast jeder Zweite – nämlich 47 Prozent – wünscht sich «eine starke Persönlichkeit an der Staatsspitze, die sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss.»
Auch Schweizer Lernende mit Vorbehalten
Stefan Schmid-Heher, einer der beiden Studienautoren, bringt im Gespräch mit SRF das Studienergebnis auf folgenden Punkt: «Niemand wünscht sich eine Diktatur, aber vielleicht eine Demokratie, in der eine starke Persönlichkeit im eigenen Sinn entscheidet und Konflikte, Auseinandersetzungen und alles was an der Demokratie anstrengend und mühsam ist, einen nicht weiter belästigen.»
Nun ist auch die Schweiz eine Demokratie, und auch die Schweiz zählt zahlreiche Lernende. Sind auch sie über Wahlen und Abstimmungen verdrossen? Sehnen auch sie sich nach einer starken politischen Führungsfigur? Dazu Philipp Gonon, Professor für Berufsbildung an der Universität Zürich: «Tatsächlich ist es so – und dazu gibt es auch Untersuchungen – dass unter Schweizer Lernenden konservativere und demokratieskeptischere Positionen zu finden sind.» Dasselbe Ausmass von Vorbehalten wie in Österreich will er in der Schweiz allerdings nicht erkennen: «Wir haben doch noch ein etwas anderes politisches System. Und dieses prägt auch die Haltung der Lernenden.»
Staatskunde ohne lebensweltlichen Bezug
Bliebe also als Befund eine Demokratie-Unlust von Schweizer Lernenden in Ansätzen. Die Schulen will Gonon dafür nicht verantwortlich machen: «In den Berufsschulen wird die Staatskunde relativ stark gewichtet. Aber dennoch ist der Informationsgrad und auch die Motivation, sich mit Politik zu beschäftigen, unter Lernenden in der Regel nicht so hoch. Die meisten Lernenden zeichnet eine Distanz zur aktiven Demokratie aus. Sie schauen die Staatsbürgerkunde als Schulstoff an und stellen keinen lebensweltlichen Bezug her.»
Auch den Lehrbetrieben möchte Gonon den Unwillen der Lernenden an der Demokratie nicht anlasten – dies im Gegensatz zu den Wiener Studienautoren, die schon in den österreichischen Betrieben die Beteiligungsmöglichkeiten der Jugendlichen als gering erachten. Gonon: «In der Schweiz machen die meisten Lernenden Berufsausbildungen in kleineren Betrieben. Da herrschen patriarchalische, fast familienähnliche Strukturen mit einem bisweilen deutlichen Autoritätsgefälle. Es gibt aber auch andere Strukturen, in welche sich die Lernenden sehr gut einbringen können.»
Der Berufsbildungs-Forscher schlussfolgert: «Dass die Lernenden im Betrieb zu wenig partizipieren können und sie sich deshalb auch politisch zu wenig einbringen, würde ich für die Schweiz relativieren. In Österreich sind die Abläufe in den Lehrbetrieben zweifelsohne strenger geregelt und bürokratischer als in der Schweiz.»
Durchlässiges Schweizer System
Laut Gonon ist die sich in der österreichischen Studie abzeichnende «Diskrepanz zwischen verschiedenen Bildungswelten» keine Ausnahmeerscheinung, sondern ein Zeichen ihrer Zeit: «Wir haben ja mit dem Brexit und Trumps Wahl zum US-Präsidenten einige Erschütterungen erlebt. Diese zeigen, dass sich Leute, die sich als Bildungsverlierer wähnen, eher an einer starken Führung orientieren und weniger Wert auf eigenständige Politik legen. Umgekehrt sind diejenigen politisch interessiert und aktiv, die für sich Aufstiegsmöglichkeiten erkennen.»
Leute, die sich als Bildungsverlierer wähnen, legen weniger Wert auf eigenständige Politik.
Allerdings sei auch in diesem Punkt die Schweiz besser aufgestellt als andere Länder. «Im Schweizer Bildungssystem ist Durchlässigkeit vorgesehen; auch mit einem berufsbildenden Start kann man sich beruflich und gesellschaftlich verwirklichen. Insofern würde ich den Graben in der Schweiz nicht ganz so drastisch sehen wie in anderen Staaten.»