Anfang Woche haben im türkischen Parlament Beratungen über die von Präsident Erdogan angestrebte Verfassungsreform begonnen. Ziel ist ein Präsidialsystem, das ihm die komplette Kontrolle nicht nur über alle Regierungsangelegenheiten, sondern auch über die Besetzung aller Richter und Staatsanwälte gäbe.
Über den geltenden Ausnahmezustand und die Pläne Erdogans sagte der türkische Verfassungsrechtler und Abgeordnete der prokurdischen Partei HDP, Mithad Sancar, Ende Jahr: «Wir leben in einem Land, in dem die Verfassung faktisch ausser Kraft ist. Die Entrechtlichung ist ein politisches Projekt von Erdogan hin zum Autoritarismus.»
Die Kritik der türkischen Opposition deckt sich mit jener aus dem Ausland. Ganz anders sehen das die Befürworter: Diese Reform sei wichtig, um in der angespannten Region mächtig zu sein und um Stabilität zu garantieren, sagt Mustafa Yeneroglu, Abgeordneter der Regierungspartei AKP von Präsident Erdogan.
SRF News: Wie soll mit einem solchen System Stabilität garantiert werden?
Mustafa Yeneroglu: Indem man die Exekutive stärkt und sie auf ihre Kernkompetenzen konzentriert – eine schnelle und straffe Entscheidungskultur. Die Legislative soll dagegen repräsentativer werden, wobei die Zehn-Prozent-Klausel abgeschafft wird. Sie bekommt dadurch mehr parlamentarische Kontrolle. Untersuchungen gibt es nach wie vor. Weiterhin können auch Fragen an die Regierung gestellt werden. Regierungsmitglieder müssen zu Beratungen erscheinen, wie es in einer normalen Demokratie auch überall der Fall ist.
Wird damit aber nicht die Gewaltenteilung aufgehoben?
Nein, im Gegenteil. Die Gewaltenteilung wird dadurch verstärkt. Und zwar indem sich die Regierung auf die Regierungsführung konzentriert und das Parlament auf die Gesetzgebung und Kontrolle der Regierung. Das bleibt so. Bisher war es schwieriger, besteht doch in einer parlamentarischen Demokratie aufgrund der engen Verbindung zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung die Kontrolle ohnehin nur auf dem Papier.
Ein türkisches Präsidialsystem wäre somit wie ein permanenter Ausnahmezustand, wie er seit dem Putschversuch im Sommer gilt?
Nein, ganz und gar nicht. Man muss einfach sehen, dass wir in der 93 Jahre alten Republik der Türkei heute bei der 65. Regierung sind. Das muss jedem vor Augen führen, dass der Versuch der parlamentarischen Demokratie in der Türkei so nicht weiter funktionieren kann, wenn die Türkei in den nächsten zehn Jahren zu den grössten Volkswirtschaften gehören soll.
Die Präsidialsysteme der USA oder Frankreichs haben starke Parlamente mit «Checks an Balances». Würde das in der Türkei nicht wegfallen?
Im Gegenteil. Das Parlament wird stärker. Im Vergleich zu den USA und Frankreich gibt es sehr viele Parallelen. In die Beratungen ist eingeflossen, was die anderen Länder an Entwicklungen vollbracht haben. Aber jedes Land hat seine Geschichte und Eigentümlichkeiten.
Die Reform hat im Parlament gute Chancen. Doch laut Umfragen gäbe es bei einem Referendum im Frühjahr ein Nein des Volks. Wie erklären Sie sich das?
Diese Frage stellt sich erst einmal gar nicht. Es gibt natürlich Unsicherheit im Volk und Diskussionen. Das zeigt ja auch, wie aktiv die Demokratie in der Türkei gelebt wird. Wir werden versuchen, das Volk von unserer Idee zu überzeugen. Wenn das Volk Nein sagt, müssen wir versuchen, auf dieser Grundlage das Beste daraus zu machen.
Wenn das Volk Nein sagt, müssen wir versuchen, auf dieser Grundlage das Beste daraus zu machen.
Laut Umfragen sind auch 20 Prozent der AKP-Wähler gegen die Reform. Hat das Volk nicht einfach Angst vor einer Diktatur?
Wie sehen bei den Umfragen gegenwärtig eine Zustimmung von an die 50 Prozent zugunsten einer präsidialen Demokratie und eine ähnlich hohe Ablehnung. Nach der parlamentarischen Abstimmung müssen deshalb die Details geklärt und das Volk aufgeklärt werden. Dann wird das Volk entscheiden. Gerade der Widerstand von AKP-Wählern widerspricht doch aber allen Vorurteilen in Europa, wonach sich die Türkei schon längst auf eine Autokratie zubewegt hat oder sogar zu einer Diktatur entwickelt. Gerade dieses Beispiel zeigt, wie stark eben die demokratische Teilhabe auch innerhalb der AKP ist.
Das Gespräch führte Samuel Wyss.