«Neutralität» ist ein dehnbarer Begriff, der in der Schweiz zunehmend zu politischen Spannungen führt. Die Gruppierung Pro Schweiz hat vergangene Woche eine Neutralitätsinitiative eingereicht, die eine «immerwährende, bewaffnete Neutralität» in der Bundesverfassung verankern will. Im Tagesgespräch spricht der Historiker André Holenstein über die Schweiz und ihre Neutralität.
SRF News: Zu welchem Zeitpunkt macht die heutige Forschung die Schweizer Neutralität fest?
André Holenstein: Wir blicken auf eine rund 400-jährige Geschichte der Schweizer Neutralität zurück. Das 17. Jahrhundert war das Zeitalter der grossen und langen Kriege nahe der Schweizer Grenze. Die damalige Schweiz wollte die Sicherheit und proklamierte eine einseitige Neutralität.
Es gab in der Vergangenheit Phasen, in denen die Neutralität der Schweiz keine Sicherheit bot.
Damit hat die Schweiz einseitig verlangt, dass ihre Grenzen nicht verletzt werden sollten und als Gegenleistung wurde versprochen, selbst nicht in den Krieg einzugreifen. Bis in die 1790er-Jahre hat diese Strategie gut funktioniert.
Nach einer 400-jährigen Geschichte scheint es nicht erstaunlich, dass die Neutralität identitätsstiftend geworden ist.
Das ist richtig. Es ist aber wichtig zu betonen, dass es sich dabei um eine einseitige Sicht auf die Geschichte der Schweizer Neutralität handelt, damit diese zu einem identitätsstiftenden Element werden konnte. Es herrscht das Narrativ vor, dass die Neutralität für die Schweiz ein Rettungsanker in Krisen- und Kriegszeiten gewesen ist und sei. Dieser dürfe nicht aufgegeben werden, sonst sei die Sicherheit der Schweiz gefährdet. Diese Sichtweise blendet unangenehme Tatsachen aus. Denn es gab in der Vergangenheit Phasen, in denen die Neutralität der Schweiz keine Sicherheit bot. Wenn Grossmächte ein Interesse daran hatten, die Neutralität zu verletzen, haben sie dies auch getan.
In dem Fall genoss die Neutralität nicht zu jeder Zeit einen guten Ruf?
Das ist eine interessante Frage, vor allem im Hinblick auf die Geschichte der Schweiz. Wir haben in unserem Land ein überhöhtes Bild von der Neutralität, in dem Sinne, dass sie für einen schwachen Kleinstaat die verlässlichste Haltung gegenüber Konflikten zwischen den umliegenden Grossmächten ist.
Wir hatten für die Kriegsparteien einen bestimmten Nutzen.
In verschiedenen politischen Schriften vom 16. bis ins 20. Jahrhundert wird die Neutralität als unkluge Haltung bezeichnet. Denn wer sich während des Krieges nicht entscheidet, auf welcher Seite er stehen will, muss nach dem Krieg selbst sehen, wo er steht. Mit anderen Worten, der neutrale Staat ist nach einem Krieg isoliert.
Kann die Neutralität im Kriegsfall Sicherheit gewähren? Die neutrale Schweiz wurde in den beiden Weltkriegen verschont.
Die Erzählung in der Schweizer Geschichte «es war die Neutralität, die uns durch die Weltkriege gerettet hat», greift zu kurz. Wenn man die Neutralitätsgeschichte in den beiden Weltkriegen anschaut, ist die Schweiz die grosse Ausnahme. Wir hatten für die Kriegsparteien einen bestimmten Nutzen. Der überwiegende Teil der anderen neutralen Staaten ist in den Krieg verwickelt worden. Luxemburg, Belgien, Holland, Dänemark, Norwegen wurden von der Deutschen Wehrmacht besetzt, die baltischen Staaten oder Polen von der Sowjetunion, Island von den USA. Wenn man also den Blick öffnet auf das Schicksal der neutralen Staaten im Zweiten Weltkrieg, dann muss man sagen, diese Strategie war höchst unzuverlässig. Und viele dieser Staaten zogen aus diesen Erfahrungen die Konsequenzen und gründeten die Nato.
Ausschnitt aus dem Tagesgespräch mit Karoline Arn, Mitarbeit Géraldine Jäggi.