Voller Lebenslust hüpfen zwei Buben auf einem Trampolin. Die beiden heben die Arme in die Luft, lachen und kreischen im Sonnenlicht. Ein paar Schritte entfernt sitzen andere Kinder im Sandkasten. Mit Schaufeln und Händen füllen sie Eimer und Förmchen. Jede Spielform ist willkommen – so wie auch jedes Kind willkommen ist.
Auch Kinder mit einer Beeinträchtigung finden in den Schaffhauser Spielhuus-Tagesstätten einen Platz. Dazu gehören beispielsweise Kinder mit Down-Syndrom wie Dalia. Sie besucht die Kita schon seit mehreren Jahren. «Immer noch kommt sie mit grosser Freude», schildert ihre Mutter, Djulsa Dracic. Doch die Suche nach einer geeigneten Kita war von Sorgen geprägt.
Dass Dalia eine Kita besuchen soll, steht für ihre Eltern schon früh fest. Beide sind berufstätig und auf eine Betreuung angewiesen. «Wir hatten auch schon eine Kita im Kopf», erzählt Djulsa Dracic. Aber Dalias Heilpädagogin rät von einer Anfrage ab: Der Hort habe bereits früher Kinder mit Behinderungen abgelehnt. Andere Eltern empfehlen der Familie, mehrere Horte zu kontaktieren. Und so stösst die Familie auf die Spielhuus-Kitas.
«Es war sehr emotional», erinnert sich Dracic heute mit brüchiger Stimme an das Aufnahmegespräch. «Anfangs getraut man sich gar nicht, die Behinderung zu erwähnen. Man sucht nach den richtigen Worten.» Im Kopf der Mutter dreht sich ein Gedankenkarussell: Was für Alternativen gibt es bei einer Ablehnung? Kann ich nicht mehr arbeiten? Wie werde ich sonst finanziell unterstützt?
Solche Ängste und Bedenken stehen exemplarisch für die Kita-Suche von betroffenen Familien. Aber: Djulsa Dracics Anfrage ist erfolgreich. Das Spielhuus mit seinen drei Kitas nimmt ihre Tochter auf. Am Standort Krebsbach findet sie einen Betreuungsplatz. Ein Glücksfall, den längst nicht alle betroffenen Mütter, Väter und Kinder erleben.
Noch grösserer Mangel an Kita-Plätzen
Schätzungsweise 9000 Kinder mit Behinderungen im Vorschulalter wohnen in der Schweiz. Dies zeigt eine Analyse von Procap, der grössten Schweizer Organisation für Menschen mit einem Handicap. Etwa 3000 von ihnen wären auf einen Kita-Platz angewiesen. Doch vielerorts mangelt es am Angebot.
«Es gibt in der Schweiz generell zu wenig Kita-Plätze, vor allem auf dem Land. Bei Betreuungsplätzen mit zusätzlichem Unterstützungsbedarf ist das Problem noch grösser», sagt Nadine Hoch. Die Geschäftsleiterin der eidgenössischen Kommission für Familienfragen hat den schweizweiten Überblick. Kürzlich hat sie als Co-Autorin das Buch «Familienpolitik in der Schweiz» veröffentlicht.
Einerseits fehlen in den Kitas laut Hoch häufig speziell ausgebildete Fachkräfte. Eine weitere Hürde stelle zudem die Finanzierung dar. «Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf brauchen mehr Betreuungspersonal und generieren in einer Kita weitere Ausgaben.» Das Problem: Es gibt schweizweit kein einheitliches Finanzierungssystem.
«Die Finanzierung der familien- und schulergänzenden Betreuung ist noch nicht wirklich geregelt», sagt Expertin Hoch. Ob sich der Staat beteiligt, hängt vom Wohnort ab. In vielen Kantonen und Gemeinden lastet die Finanzierung auf den Schultern der Familie. Dieses Ungleichgewicht illustrieren folgende Beispiele:
- In Basel-Stadt möchte eine Familie ihren Sohn in eine Kita schicken. Für die Betreuung des beeinträchtigten Kindes übernimmt der Kanton die Kosten.
- In der Zürcher Gemeinde Dübendorf wollen Eltern für ihr Mädchen mit einer schweren Behinderung einen Hortplatz. Die Mehrkosten müssen sie selbst tragen.
Für betroffene Familien kostet der Krippenplatz in Dübendorf fast 44'000 Franken jährlich zusätzlich. Dies bei 150 Betreuungstagen, wie ein Vergleich von Procap zeigt. Viele Eltern können sich solche Kosten nicht leisten und verzichten.
Föderalismus als Bremser der Inklusion?
Auch bei den Angeboten selbst zeigt die Schweiz ihr föderalistisches Gewand. Kantone wie Genf bieten eine Kita-Lösung für sämtliche Kinder an, egal ob sie eine leichte oder eine schwere Behinderung haben. Im Kanton Schwyz beispielsweise gibt es kein Angebot.
Auch in Schaffhausen gibt es für Vorschulkinder mit höherem Betreuungsbedarf keine finanzielle Unterstützung. Und das bringt auch die Spielhuus-Kitas in Bedrängnis.
«Schon bei der Kita-Gründung hatten wir ein offenes Herz», blickt Gabriela Wichmann zurück. Sie ist Präsidentin des Vereins Spielhuus-Tagesstätten. «Wir versuchten, möglichst alle Kinder aufzunehmen.» Mädchen mit Sprachdefiziten, Buben aus schwierigen Familienverhältnissen, Kinder mit Entwicklungsstörungen.
Über die Jahre nehmen komplexe Fälle aber immer mehr zu, die Nachfrage steigt. Vor zwei Jahren dann starten die Tagesstätten das Inklusionsprojekt «Schiffli». Am Standort Krebsbach schaffen sie mehr Betreuungsplätze und stellen mehr Fachpersonal an. Die Innen- und Aussenräume werden barrierefrei umgebaut.
Betreuung ohne Diskriminierung ist gefragt
Momentan besuchen rund 25 Kinder mit einer Beeinträchtigung den Standort Krebsbach. Nochmals so viele Anfragen liegen vor. «Das Bedürfnis ist wirklich riesig», sagt Wichmann. Dieser grosse Wunsch nach Inklusion widerspiegelt die Ergebnisse einer Procap-Studie.
Die Finanzierung der Betreuungsplätze übernimmt in Schaffhausen eine private Stiftung. Für betroffene Familien ist dies eine grosse Erleichterung. «Wir Eltern haben dadurch keine Zusatzkosten», sagt Djulsa Dracic. Benötigt ein Kind viel Unterstützungsbedarf, kostet ein Kita-Platz rasch bis zu 400 Franken. Pro Tag.
Doch am Finanzhimmel ziehen düstere Wolken auf. Die Gelder der privaten Stiftung laufen Ende Jahr aus. Denn das Projekt «Schiffli» ist lediglich ein Versuch. Die Stiftung hat stets klargestellt, dass die Verantwortung für ein weiteres Programm beim Kanton liegt. Auch die finanzielle Verantwortung. Und dies schon seit Jahren.
Regierungsrat Strasser räumt Versäumnisse ein
Bisher rechtfertigen sich die kantonalen Behörden damit, dass in Schaffhausen für eine solche Finanzierung die gesetzliche Grundlage fehle. Experten halten dieses Argument für eine Ausrede. Nadine Hoch, Co-Autorin des Buches Familienpolitik in der Schweiz, spricht von einem Armutszeugnis. «Dann ist es höchste Zeit, die gesetzliche Grundlage anzupassen und gemeinsam mit den Gemeinden Verantwortung zu übernehmen.»
Diese Kritik scheint in der Schaffhauser Regierung Gehör zu finden: So räumt Regierungsrat Patrick Strasser (SP) Versäumnisse in der Vergangenheit ein. Er ortet im Kita-Bereich Nachholbedarf – speziell bei Kindern mit besonderen Bedürfnissen. «Sie finden aktuell nur ganz schwierig einen Kita-Platz. In den letzten Jahren wurde hier sicherlich geschlafen», gibt der Schaffhauser Erziehungsdirektor zu. Er ist seit anderthalb Jahren im Amt.
In den letzten Jahren wurde hier sicherlich geschlafen
Die Lösung dieses Finanzierungsproblems gehört gemäss Strasser zu den diesjährigen Regierungszielen. «In den letzten Wochen haben wir geprüft, welche gesetzlichen Grundlagen es braucht. Nun werden sie geschaffen.»
Für das Spielhuus und die betroffenen Familien ist der Entscheid zwar ein Lichtblick, der politische Weg ist aber zeitintensiv. Der Regierungsrat muss eine Vorlage ausarbeiten. Aufgrund der wiederkehrenden Kosten berät das Kantonsparlament und bei einem allfälligen Referendum das Volk darüber. Das kann dauern.
Wir sind politisch mit dem Reisebähnli unterwegs.
Wichmann vergleicht den politischen Prozess mit einer Fahrt im Bummelzug: «Nötig wäre jetzt ein TGV. Wir sind jedoch politisch mit dem Reisebähnli unterwegs.» Sie wünscht sich, dass das Kantonsparlament die Vorlage rasch behandelt. «Es soll aus dem Prozess wirklich einen Expresszug machen.»
Zudem sollen sinnvolle Beiträge für die Kitas gesprochen werden, sagt Wichmann weiter. Falsch wären Minimalbeiträge, die nur mehr administrativem Aufwand für die Kitas bedeuten würden.
«Bildung beginnt nicht erst ab vier Jahren»
Wohin die Vorlage steuert, ist noch offen. Sicher ist aber, dass der Kanton Schaffhausen bereits Interesse am Programm KITAplus der Stiftung Kifa Schweiz bekundet. Das bestätigt die stellvertretende Geschäftsführerin Theresia Marbach. Man sei mit Vertretern aus Schaffhausen im Gespräch.
KITAplus bietet eine Art Starthilfe und schafft Rahmenbedingungen, damit Kinder mit besonderen Bedürfnissen normale Kindertagesstätten besuchen können. «KITAplus übernimmt die Projektleitung und finanziert diese auch», erklärt Marbach. Die Finanzierung des weiteren Betriebs ist danach Aufgabe von Kanton und Gemeinden. In rund fünf Kantonen ist das Projekt bereits definitiv umgesetzt.
Auch Expertin Nadine Hoch bezeichnet KITAplus als gute Variante für betroffene Kinder. «Es ist die beste Lösung, sofern es die Behinderung auch zulässt.» Das Programm richtet sich nur an Kinder mit leichten Behinderungen. «Für Kinder mit schweren Beeinträchtigungen muss man deshalb sicher andere Lösungen suchen», sagt Hoch.
Gleichzeitig seien nationale Leitlinien gefragt, entweder vom Bund selbst oder den zuständigen Konferenzen wie jener der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren, «damit dieser kantonale oder häufig sogar noch kommunale Flickenteppich bezüglich Qualitäts- und Finanzierungsvorgaben reduziert werden kann.»
Dadurch will Hoch allen Kindern in der Schweiz die gleichen Bildungschancen ermöglichen: «Denn Bildung beginnt nicht erst ab vier Jahren mit dem Kindergarten. Bildung beginnt ab Geburt.»