Der Anruf kam vor zwanzig Jahren, aber Charles Anzi erinnert sich bis heute an jedes Wort. «Am Telefon war einer meiner Brüder, er sagte: ‹Halt dich fest, ich muss dir etwas mitteilen. Mutter ist umgebracht worden.›»
Fassungslos sei er damals gewesen, sagt der heute 67-jährige Charles Anzi. Die Nachricht, dass die eigene Mutter Opfer eines Gewaltverbrechens geworden sei – das habe sich angehört, als stamme sie aus einer anderen Welt, so unvorstellbar habe es geklungen.
«Eine Woche vor ihrer Ermordung hatte ich sie im Betagtenzentrum Eichhof noch besucht, sie feierte ihren 76. Geburtstag», sagt er. «Es ging ihr gut, ich nahm sie am Arm, wir spazierten, sassen an der Sonne. Und dann das.»
Eine Woche vor ihrer Ermordung hatte ich meine Mutter noch besucht.
Was Charles Anzi noch nicht weiss, als sein Bruder ihm vom Tötungsdelikt berichtet: Seine Mutter ist nicht die Einzige, die im Luzerner Pflegeheim gewaltsam zu Tode gekommen ist. Sie ist zum letzten Opfer eines Serientäters geworden, der mindestens 22 Menschen umgebracht hat – so viele wie zuvor kein anderer in der Schweizer Kriminalgeschichte.
Die Polizei rückt «auf gut Glück» aus
Als am Morgen des 28. Juni 2001 der Tod von Anzis Mutter festgestellt wird, dauert es nicht lange, bis die Handschellen klicken: Die Luzerner Polizei rückt aus zum Betagtenzentrum Eichhof und nimmt einen 32-jährigen Pfleger fest.
Es ist eine Art Überraschungsangriff. Die Polizei hat gegen den Mann nichts in der Hand, es gibt lediglich einen schaurigen Verdacht: Seit der junge Pfleger, der als umgänglich und aufgestellt gilt, im Januar 2001 auf der Pflegestation A zu arbeiten begonnen hat, häufen sich dort die Todesfälle.
Der Leiter der Luzerner Kriminalpolizei wird ein paar Tage später an einer Pressekonferenz sagen: «Es war eine grossangelegte Intervention auf – ich muss es betonen – gut Glück.»
Der Täter gesteht schon am ersten Tag
Die Intervention ist erfolgreich: Bereits am Abend des 28. Juni gesteht der Mann die ersten Tötungen. Weitere Geständnisse kommen im Lauf der monatelangen Ermittlungen hinzu, der Täter macht als «Todespfleger» bald Schlagzeilen über die Landesgrenzen hinaus.
Seine Tötungsmethode: Ein Plastiksack, auf das Gesicht der im Bett liegenden Betagten gedrückt bis zum Atemstillstand – oder eine Überdosis starker Beruhigungsmittel. Zu Beginn der Befragungen besteht der Täter darauf, seine oftmals demenzkranken Opfer aus Mitleid umgebracht zu haben; später räumt er jedoch ein, die Arbeit habe ihn überfordert. Manchmal sei er auch einfach wütend auf seine Opfer gewesen, etwa, weil sie ihn kritisiert hätten.
Die Hinterbliebenen sind fassungslos
Auch heute, zwanzig Jahre nach seiner Festnahme am 28. Juni 2001, ist der mittlerweile 52-Jährige noch immer in Haft. Das Luzerner Obergericht verurteilte ihn 2006 in zweiter Instanz zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, wegen sieben Morden und 15 vorsätzlichen Tötungen, ausgeübt zwischen 1995 und 2001 in mehreren Betagtenheimen der Zentralschweiz. An seiner Inhaftierung dürfte sich so schnell nichts ändern.
Nichts geändert hat sich in den vergangenen 20 Jahren auch an der Fassungslosigkeit, die die Tötungen ausgelöst haben. Etwa bei Charles Anzi. Er habe den Schock von damals zwar verdaut, sagt er: «Geblieben ist bis heute aber die Frage: Warum konnte so etwas passieren? Und geblieben ist auch das Gefühl, dass meine Mutter nicht durch die Hand eines Mörders hätte sterben müssen.»
Hat das Heim zu spät Alarm geschlagen?
Dieses Gefühl stellt sich bei Charles Anzi schon bald nach Auffliegen der Tötungsserie ein. Als Angehöriger kann er 2001 Einblick in die Akten beantragen – und vieles, was er dabei entdeckt, irritiert ihn.
Etwa, dass einzelnen Mitarbeitern im Heim in Luzern bereits Monate vor dem 28. Juni 2001 auffiel, dass sich viele Todesfälle während der Schichten des Pflegers ereigneten. Dass der Abteilungsleiter die Heimleitung aufforderte, ihn im Auge zu behalten. Dass die Polizei den Mann seit Mitte Juni im Visier hatte, auch wenn ihr die Beweise fehlten, um ihn zu überführen.
Charles Anzi sagt heute: «Ich wurde den Eindruck nicht los, dass meine Mutter geopfert wurde.» Das Heim und die Polizei hätten gewusst, welche Gefahr von diesem Pfleger ausging, und dennoch hätten sie ihn machen lassen – «weil sie den Fahndungserfolg höher gewichteten als den Schutz der Heimbewohner», wie Anzi sagt.
Gericht spricht Heimarzt frei
Anzi strengt einen Prozess gegen die Verantwortlichen des Pflegezentrums an, unterliegt aber 2008 in zweiter Instanz. Das Luzerner Obergericht kommt zum Schluss, dass der Heimarzt – der dem «Todespfleger» auf die Schliche gekommen war – die Behörden zwar früher hätte einschalten müssen. Dass es aber nicht erwiesen sei, dass damit die letzte Tötung hätte verhindert werden können.
Juristisch ist der Fall für Charles Anzi damals erledigt, ihm fehlt das Geld, um das Urteil weiterzuziehen. 2010 zahlt die Stadt Luzern Anzi, wie anderen Hinterblieben auch, eine finanzielle Entschädigung aus – legt aber Wert auf die Feststellung, es handle sich dabei nicht um ein «moralisches Schuldeingeständnis».
Pflegeheime haben aus dem Fall gelernt
Im Betagtenzentrum Eichhof, wo vor 20 Jahren der Serientäter mit den meisten Todesopfern der Schweiz festgenommen wurde, sind die Ereignisse von damals heute kaum noch ein Thema. Es seien nicht mehr viele Angestellte im Heim, die die Zeit damals erlebt hätten, sagt Joel Früh, der die Institution seit gut zwei Jahren leitet. Und ja, sagt er: «Das ist etwas, über das man nicht gerne spricht.»
Im Eichhof spricht man heute nicht mehr gerne über die Ereignisse von damals.
Allerdings: Die Machenschaften des ehemaligen Eichhof-Pflegers haben vieles ausgelöst. «Im Nachgang dazu wurden Prozesse geändert, etwa im Zusammenhang mit Medikamenten, wo es heute viel genauere Dokumentationen und strengere Kontrollen gibt», sagt Früh.
Ausserdem sei eine Kultur geschaffen worden, in der sich das Personal anders über Todesfälle austauschen könne als vor 20 Jahren üblich. Denn obwohl damals verschiedene Angestellte bereits früh alarmiert waren, dauerte es lange, bis die Heimleitung auf diese Warnsignale reagierte.
Das gilt nicht nur für Luzern – die Tötungsserie in drei Zentralschweizer Heimen stellte die gesamte Branche auf dem Kopf.
Sie habe auch zu einem neuen Umgang mit unerklärlichen Todesfällen geführt, sagt Christian Arnold, Zentralschweizer Präsident des Brancheverbands Curaviva: «Die Ärztinnen und Ärzte in den Heimen sind aufmerksamer geworden bei Todesfällen, die überraschend auftreten. Sie melden solche Fälle viel schneller den Behörden als früher». Tötungen könnten so nie mehr so lange unentdeckt bleiben wie vor 20 Jahren, sagt Arnold.
Die seelischen Wunden bleiben
Was also bleibt, zwanzig Jahre nach der Verhaftung jenes Mannes, der als «Todespfleger» Schlagzeilen machte? Die Pflegeinstitutionen haben Lehren gezogen aus den Tötungen von damals, sind sensibilisierter geworden, aufmerksamer.
Und die Angehörigen der damaligen Opfer? Charles Anzi sagt, er habe abgeschlossen mit der Geschichte, doch ganz verheilt sei die seelische Wunde nicht. Und immer im Sommer komme die Erinnerung wieder hoch. An den Besuch bei der Mutter an ihrem Geburtstag, an den Anruf einige Tage später. An die Mitteilung: Mutter ist umgebracht worden.