Ein Staat darf nicht alles. Er kann nicht einfach so auf die Arbeitskraft seiner Bürgerinnen und Bürger zurückgreifen. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sagt klar: «Niemand darf gezwungen werden, Zwangs‑ oder Pflichtarbeit zu verrichten.»
Die EMRK ist nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt worden – als Antwort auf die Zeit des Nationalsozialismus, erklärt der Staatsrechtler Reto Müller. Die Idee: «Die Menschen sind keine Objekte und sie dürfen grundsätzlich nicht zu einer unfreiwilligen Arbeit gezwungen werden.»
Dienstarten im «Service Citoyen»
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Bild 1 von 3. Dienst mit Waffe. Die Armee soll auch bei einem obligatorischen Gemeinschaftsdienst genügend Soldatinnen und Soldaten rekrutieren können. Bildquelle: Keystone/Martial Trezzini.
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Bild 2 von 3. Katastrophenschutz. Auch der Zivilschutz soll Priorität haben und genügend Schutzdienstpflichtige bekommen. Zum Beispiel um Flüchtlinge zu betreuen, wie hier in Lausanne. Bildquelle: Keystone/Valentin Flauraud.
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Bild 3 von 3. Ziviler Dienst an der Gesellschaft. Der «Service Citoyen» soll auch zivil erfüllt werden können. Zum Beispiel bei der Sanierung von Trockenmauern im Muotathal (SZ). Bildquelle: Keystone/Urs Flüeler.
Es gibt aber Ausnahmen vom Zwangsarbeitsverbot: für Militärdienst, zivilen Ersatzdienst, Zivilschutz und Feuerwehr. Auch für Strafgefangene sind Arbeitspflichten zulässig, und es können sogenannte «übliche Bürgerpflichten» bestehen.
Ausnahmen fürs Militär
Der Gedanke hinter den Ausnahmen sei, der Staat solle seine eigene Existenz sichern können, insbesondere in einer Kriegssituation oder bei Katastrophen und schweren Notlagen, sagt Staatsrechtler Reto Müller.
Die Initiative will aber mehr. Der zukünftige Bürgerdienst soll nicht nur die Dienstpflicht in der Armee, Zivildienst und Zivilschutz umfassen, sondern auch weitere Aufgaben zugunsten der Allgemeinheit und der Umwelt. Die Initiative habe ein breites Sicherheitsverständnis, sagt Noémie Roten vom Initiativkomitee.
Die heute militärisch orientierte Dienstpflicht solle durch ein System mit mehr Wahlfreiheit abgelöst werden. Das könne nicht gegen die Menschenrechte verstossen, ist Roten überzeugt. «Wir erweitern die Angebotspalette, in welchen Bereichen Dienst geleistet werden kann.»
Das Ziel sei ein Gemeinschaftsdienst, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Milizsystem stärke. Die Pflege von Angehörigen gehöre beispielsweise dazu, steht im Manifest der Initiative, oder auch die Integration von Ausländern, Unterstützung bei der Kinderbetreuung oder der Schutz der Umwelt.
Für Staatsrechtler Reto Müller «geht der ‹Service Citoyen› über die anerkannten Ausnahmen des Zwangsarbeitsverbotes hinaus». Der geforderte Bürgerdienst der Initianten gelte allgemein und solle auf verschiedene Arten erfüllt werden können.
Noémie Roten vom Initiativkomitee widerspricht. Ein Bürgerinnen- und Bürgerdienst profitiere nämlich von einer weiteren Ausnahme, von den sogenannten «üblichen Bürgerpflichten». Die Schweiz kenne bereits heute ein ausgeprägtes Milizsystem. Darum falle ein zukünftiger Bürgerdienst unter die Ausnahme des Zwangsarbeitsverbotes, sagt Roten.
Anderer Meinung bezüglich den «üblichen Bürgerpflichten» ist Staatsrechtler Reto Müller. Gemäss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) hängten die üblichen Bürgerpflichten mit Berufspflichten zusammen, sagt der Jurist. Zum Beispiel müssten Anwälte auch Pflichtverteidigungen übernehmen. Oder Ärztinnen leisteten Notfalldienste.
Kommt die Initiative zur Abstimmung und wird sie angenommen, dann muss das Parlament versuchen, die Initiative völkerrechtskonform umzusetzen. Das könnte dereinst für Frust und Enttäuschung sorgen bei den Initiantinnen und Initianten.