«Wisst ihr schon, wo wir sitzen?», fragt der Zürcher SVP-Nationalrat Mauro Tuena seine Parteikollegen Claudio Zanetti und Bruno Walliser als sie zu dritt die mächtigen Treppen im Bundeshaus erklimmen. Hinter sich her ziehen sie Rollköfferchen in Richtung Nationalratssaal. «Ich musste mir gestern extra einen kaufen», sagt Tuena, «wir haben so viele Unterlagen bekommen.» Bis am 30. Oktober hat er nun Zeit die Dokumente durchzuackern. Dann fängt die Arbeit als Parlamentarier offiziell an.
Fast schon ehrfürchtig betreten die drei den grossen Saal. «Habt ihr den Fisch auf dem Felsen gesehen?», fragt Zanetti und deutet auf das monumentale Gemälde des Urnersees, welches den Saal ziert. «Ein Aprilscherz des Malers», belehrt er seine Kollegen, bevor sie sich einen Platz in den Sitzreihen suchen. Die sind bald gut gefüllt. Mehr als 40 frischgebackene Parlamentarier haben sich zum Einführungstag eingefunden. Alle haben es aber nicht geschafft: Prominentester Abwesender ist «Weltwoche»-Chefredaktor Roger Köppel.
«Vertraue nie der Deutschen Bahn»
Deutlich verspätet trifft der ehemalige Diplomat Tim Guldimann (SP) im Saal ein. Sein Zug aus Berlin hatte Verspätung. «Vertraue nie der Deutschen Bahn», mahnt der Auslandschweizer mit einem Grinsen. Längst hat die Begrüssung durch Nationalratspräsident Stéphane Rossini (SP) begonnen. «Wir sind ein Milizparlament, trotzdem werden Sie 30 bis 50 Stunden pro Woche für die Eidgenossenschaft arbeiten», bereitet er die Neulinge auf ihre Aufgabe vor.
Und er schiebt gleich die ersten Verhaltensregeln für die Ratssäle nach: Telefonieren ist verboten, Gespräche nur im Flüsterton erlaubt, Diskussionen von mehr als drei Personen müssen ausserhalb des Saals stattfinden. «Lesen Sie mindestens einmal das Ratsreglement durch», empfiehlt er. Viele Zuhörer grinsen. Aber alle – von rechts bis links – hören aufmerksam zu.
Wo geht's zur Cafeteria
In der Wandelhalle vor dem Nationalratssaal sind schon seit dem frühen Morgen zahlreiche Stände aufgestellt, die den frischgebackenen Volksvertretern Informationen zu jedem Aspekt ihrer neuen Aufgabe bieten. Wie funktioniert die IT? Wer hilft mir, wenn ich Drohbriefe erhalte? Wie steht es um die Altersvorsorge? Und nicht zuletzt: Wo ist die Cafeteria?
Viele der neuen Ratsmitglieder waren zwar vorher schon in Kantonalparlamenten aktiv. Doch selbst dann ändert sich nun Einiges: Statt in Schweizerdeutsch wird nun Französisch und Hochdeutsch parliert. Schon vor dem ersten Arbeitstag hagelte es Einladung über Einladung verschiedenster Interessengruppen, bei denen man erst noch herausfinden muss, wo sich ein Erscheinen lohnt. Und man wird mit Dokumenten eingedeckt, bei denen man mit Lesen kaum nachkommt.
«Automatisch seriöser»
Die Frischgebackenen schauen ihrer neuen Herausforderung mit einer Mischung aus Freude und Nervosität entgegen. «Es ist ein sehr spezielles Gefühl, in diesem Saal zu sitzen», meint die Baslerin Sibel Arslan (Grüne), die als erste Kurdin ins Schweizer Parlament zieht. «Man verhält sich automatisch seriöser», sagt sie mit einem scheuen Lächeln, als ob sie nicht sicher ist, ob sie etwas Falsches gesagt hat.
Ein paar Meter von Arslan entfernt, hört man das kernige Lachen der gut gelaunten Magdalena Martullo-Blocher (SVP). «Ich hätte nie gedacht, dass es einmal nötig sein wird, dass ich in die Politik gehe», sagt sie. Aber Unternehmer, die die Arbeit im Parlament nicht als Vollzeitstelle begreifen, gebe es schlicht zu wenig. Angst vor der neuen Aufgabe habe sie nicht, aber sie werde sich noch besser organisieren müssen. «Die Mitarbeit in vielen Kommissionen wird nicht möglich sein, aber wir sind eine grosse Fraktion und ich kann dort Impulse geben.»
Als es darum geht, ein Foto von ihr zu machen, zieht Martullo-Blocher den Fotografen vor ein Zimmer, über dessen Tür in goldenen Lettern «Bundesrat» steht. Ein Hinweis auf ihre Aspirationen? «Nein, wo denken Sie hin? Sicher nicht!», sagt Martullo-Blocher. Und lacht dabei ihr kerniges Lachen.