Am Mittwoch stand ein Mann vor dem Amtsgericht Olten-Gösgen. Der Vorwurf: Sexuelle Handlungen mit einem Kind, beziehungsweise Vergewaltigung. Das Mädchen war damals 13 Jahre alt. Der Angeklagte ist der Ex-Partner der Mutter. Er behauptet, der Geschlechtsverkehr mit dem Kind in seiner Wohnung sei einvernehmlich gewesen. Die damals 13-Jährige sagt, es war Vergewaltigung.
Wöchentlich werden ähnliche Fälle vor Gericht verhandelt, häufig unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Genau das sollte man überdenken, sagt Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt im Interview.
SRF News: Gemäss Kriminalstatistik wurden im letzten Jahr in der Schweiz 1200 Fälle von sexuellen Handlungen mit Kindern angezeigt. Sind das alle Fälle?
Die Dunkelziffer ist sehr gross. Man weiss, dass viele betroffene Kinder nie über die Übergriffe reden. Auch wenn Fälle gerichtlich verhandelt werden, ist die Beweisbarkeit häufig schwierig. Oft steht Aussage gegen Aussage. Viele Fälle werden nicht angezeigt und andere Verfahren werden wieder eingestellt: im Zweifel für den Angeklagten.
Wie gehen Gerichte damit um?
Die Situation ist typisch für Sexualdelikte. Manchmal gibt es Fotos oder Videos, die als Beweismittel verwendet werden können. Die Untersuchungsbehörden müssen die Glaubwürdigkeit überprüfen. Es gibt immer wieder Fälle, wo man sagen kann: Wir glauben dem Opfer, auch wenn es «nur» eine Aussage ist.
Hat sich in den letzten Jahren etwas geändert?
Es ist vieles im Gang mit Blick auf Sexualstrafdelikte. Es gibt auch politische Bestrebungen. Das Ziel sind verpflichtende Weiterbildungen für Untersuchungsbehörden. Aber diese Umsetzung braucht Zeit.
Die Opfer müssen bei einer Anzeige x-Mal erklären, was ihnen passiert ist. Hat man das geändert?
Strafverfahren sind auf Erwachsene zugeschnitten. Bei Kindern probiert man maximal zwei Einvernahmen durchzuführen. Zudem sollen Kinder nicht vor Gericht befragt werden; man will Konfrontationen mit der beschuldigten Person vermeiden. Trotzdem ist so ein Verfahren für Kinder belastend. Über eine traumatisierende Tat zu sprechen macht Angst.
Fälle sexueller Gewalt in der Verwandtschaft sind in den Medien selten präsent. Sollte sich das ändern?
Es wäre sehr wichtig, dass man mehr über sexualisierte Gewalt in der Familie berichtet. Es wird viel häufiger über die grossen Fälle, in Kirchen und Internaten, berichtet. Wenn man vermehrt über die «unspektakulären» Fälle in der Familie berichten würde, würde das dazu beitragen, dass das Thema kein Tabu mehr ist. Man würde merken: Das Thema geht alle an. Es passiert eben nicht nur bei anderen, sondern auch im eigenen Umfeld.
Eine Berichterstattung kann für ein betroffenes Kind auch tröstend sein.
Es kommt darauf an, wie man medial berichtet. Das Opfer soll nicht zur Schau gestellt werden. Das Ziel einer Berichterstattung wäre, dass der Hörer oder die Leserin versteht, wie so etwas passieren konnte und was das Opfer gebraucht hätte, wie hätte das Ganze hätte verhindert werden können. Es kann für ein betroffenes Kind auch tröstend sein, dass «das ganze Land» via Medienberichterstattung teilhat am Schicksal.
Das Gespräch führte Andreas Brandt.