Walter Nowak ist 12 Jahre alt und glaubt an das Gute, als er in den 1960er- Jahren in das Kinderheim St. Iddazell des Klosters Fischingen (TG) kommt. Doch für ihn wird es ein Ort des Grauens.
«Nachts hörte ich die schweren Schritte des Paters auf dem Holzboden. Sie kamen immer näher, die Türe öffnete sich, er packte mich am Arm und zerrte mich in sein Schlafzimmer», erinnert sich Walter Nowak. «Es war immer derselbe Pater, der mich und auch andere Kinder physisch und sexuell missbrauchte.»
«Das Leid kann nicht wiedergutgemacht werden»
Walter Nowak, heute 62, stellte bei der katholischen Kirche einen Antrag auf eine Genugtuungszahlung und erhielt im Dezember 10’000 Franken: «Das Leid, das mir angetan wurde, kann mit keiner Summe wieder gutgemacht werden - doch wenigstens anerkennt die Kirche damit, dass Unrecht passiert ist». Er ist eines von 47 Missbrauchsopfer in der Schweiz, das 2018 eine Genugtuungszahlung erhalten hat. 2018 flossen rund 700'000 Franken an Missbrauchsopfer, das zeigen die Zahlen, die SRF vorliegen. 2017 waren es noch 435'000 Franken.
Die Kommission Genugtuung der katholischen Kirche Schweiz bezahlt pro Fall bis zu 20’000 Franken. «Wenn ein Opfer vergewaltigt wurde ist für uns klar, dass wir die maximale Genugtuung von 20’000 Franken bezahlen» erklärt Liliane Gross, Präsidentin der Kommission. «Klar ist aber auch: das Leid kann mit keinem Geld wiedergutgemacht werden. Es geht um einen symbolischen Betrag.»
Täter streiten Tat ab
In mehr als der Hälfte der Fälle sind die mutmasslichen Täter verstorben. Es gibt beschuldigte Kleriker, die einen sexuellen Missbrauch stets abstritten. Das war auch im Fall Nowak so. Doch das ist für die Kommission nicht von entscheidender Bedeutung. «Wir sind für die Opfer da, nicht für die Täter,» erklärt Liliane Gross.
Wenn der Mundgeruch wichtig ist
Die Kommission Genugtuung spricht nicht mit den Opfern, sondern fällt seine Entscheide aufgrund von Opfer-Dossiers, die im zuständigen Bistum von einem Fachgremium zusammengestellt werden.
Im Bistum Basel ist Fabian Berz als Personalverantwortlicher für die Zusammenstellung der Dossiers verantwortlich. Er überprüft, ob die Aussagen der Opfer, die sie im Rahmen von einem Interview mit einer Fachperson gemacht haben, zutreffen. «Oft können sich die Opfer nicht mehr genau erinnern, wie sich der Übergriff genau abgespielt hat, nur noch an ein Detail - und das kann sehr wichtig sein.»
Wie bei dem Mann, der als 7-jähriger missbraucht wurde. Er konnte sich nur noch an ein bestimmtes Detail erinnern: der Priester hatte Mundgeruch. «Dieses Detail erhöhte die Glaubwürdigkeit, denn so etwas erfindet man nicht. Und es zeigt, dass es sich vermutlich um Zungenküsse handelte. Somit können wir rekonstruieren, um was es sich für einen Missbrauch handelte,» erklärt Fabian Berz.
Doch Walter Nowak wollte nicht darüber sprechen: «Ich gehe auf keinen Fall zur Täterorganisation und erzähle, wie oft und wie lange ich von einem ihrer Pater missbraucht wurde» sagt Walter Nowak. Für sein Dossier war Fabian Berz zuständig. Er darf über den Fall sprechen, da ihn Walter Nowak von der Schweigepflicht entbunden hat. «Wenn wir wie im Fall Nowak kaum Angaben über das Ausmass des Missbrauchs haben, fehlt uns ein wichtiger Bestandteil für das Dossier.» Walter Nowaks Fall wurde von der Kommission Genugtuung schliesslich als «Regelfall» eingestuft, das ergibt eine Genugtuung von 10’000 Franken.